Trauernde Geschwister – Online-Präventionsprogramm

Heute möchte ich euch das Online-Präventionsprogramm für trauernde Geschwister vorstellen. Dazu habe ich die Psychologin Nicole Rosenberg, die am Projekt mitarbeitet, interviewt.

Ich habe selbst im Herbst 2017 an diesem Projekt teilgenommen. Auch wenn ich mich seit etwa zwei Jahren sehr intensiv mit dem Tod meiner Schwester beschäftige und vieles dazu auf diesem Blog geschrieben habe, hat es mir doch nochmal weitergeholfen. Ähnlich wie auf dem Blog konnte ich noch mal einiges aus mir „herausschreiben“ und habe genau wie auch hier sehr persönliche mitfühlende Rückmeldungen erhalten, die mich bestärkt und unterstützt haben. Deshalb möchte ich es hier vorstellen, sodass es vielleicht noch andere trauernde Geschwister erreicht. Bei der Teilnahme an dem Programm ist es egal, ob man seine Schwester oder seinen Bruder im Kindesalter oder im Erwachsenenalter verloren hat, man sollte nur über 16 Jahre alt sein.

Ich finde es sehr schön, dass es dieses Projekt gibt und dass es die therapeutische Wirkung des Schreibens in den Mittelpunkt stellt.

1. Woher kam die Idee für das Projekt? Wie sind Sie dazu gekommen?
Das Projekt „Trauernde Geschwister“ (www.trauernde-geschwister.org) wurde von Frau Prof. Birgit Wagner und dem Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister e.V. (VEID) ins Leben gerufen. Es ist ein Online-Präventionsprogramm speziell für Menschen, die einen Bruder oder eine Schwester verloren haben und in dieser Form einmalig im deutschsprachigen Raum. Das Projekt läuft an der Medical School Berlin unter der Leitung von Frau Prof. Wagner, die auch die Idee dazu hatte. Sie beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema Internettherapie und hat zahlreiche Studien dazu durchgeführt. Dabei fiel ihr auf, dass es kaum passende Angebote für Geschwister gibt, obwohl jedes Jahr etwa 20.000 Kinder und Jugendliche sterben, von denen sehr viele ein oder mehrere Geschwister hinterlassen. Frau Prof. Wagner entwickelte deshalb ein Therapieprogramm, das speziell auf Themen fokussiert, die für trauernde Geschwister wichtig sind, zum Beispiel die Beziehung zu den Eltern. Das Projekt ist in eine Studie eingebettet, so dass auch geschaut werden kann, ob das Schreibprogramm wirkt und wie effektiv es ist. Ich arbeite als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Medical School Berlin und bin seit Beginn des Projekts mit dabei. Zusammen mit meiner Kollegin Frau Uhlmann behandele ich die Patienten und betreue die Studie.

2. Seit wann läuft das Projekt schon und bis wann soll es laufen?
Das Projekt „Trauernde Geschwister“ ist im Jahr 2016 gestartet und seit Januar 2017 werden trauernde Geschwister von Diplom-Psychologinnen behandelt. Zunächst wird das Projekt bis Mitte 2018 laufen. Wir haben gesehen, dass der Bedarf an Unterstützung bei Geschwistern sehr groß ist und deshalb möchten wir das Projekt gern über einen längeren Zeitraum fortführen.

3. Wie läuft das Programm ab?
Bei dem Programm handelt es sich um ein 6-wöchiges Online-Therapieprogramm basierend auf einer Schreibtherapie für Jugendliche und Erwachsene im Alter zwischen 16 und 65 Jahren, die ein Geschwister verloren haben. Der Ablauf ist so, dass sich die Teilnehmer zunächst auf unserer Webseite (trauernde-geschwister.org) registrieren. Danach bekommen sie detaillierte Informationen zur Studie und eine Einwilligungserklärung zugesendet, die ausgefüllt an uns zurückgesendet werden muss. Anschließend sollen die Teilnehmer verschiedene Online-Fragebögen ausfüllen damit wir sehen können, wie es den Teilnehmern geht und ob sie für die Studie infrage kommen. Danach führen wir ein telefonisches Interview, in dem nochmals Fragen gestellt werden, zum Beispiel zur Stimmung und zu aktuellen Krisen. Wenn die Teilnehmer für das Programm geeignet sind, werden sie in das Programm aufgenommen und die Behandlung kann beginnen. Die Teilnehmer bekommen dann eine Therapeutin zugeordnet, die die Teilnehmer über die gesamte Behandlung begleitet. Falls das Programm nicht geeignet ist, findet durch uns eine persönliche Beratung zu Alternativen statt. Das Programm läuft ausschließlich online, also per Email, ab. Die Patienten erhalten in jeder Woche zwei Schreibaufgaben. In der Anleitung zur Schreibaufgabe ist jeweils genau erklärt, worum es in den Aufgaben gehen soll. Nach jeder Aufgabe bekommen die Teilnehmer eine Rückmeldung von ihrer Therapeutin. In der Mitte und am Ende der Behandlung sollen dann noch einmal einige Fragebögen ausgefüllt werden, um zu schauen, wie es den Teilnehmern geht und wie sich ihre Situation entwickelt hat.

4. Welche Themen bewegen die Teilnehmer, die ihre Schwester oder ihren Bruder verloren haben? Gibt es Themen, die besonders die Teilnehmer bewegen, die ihr Geschwister im Kindesalter verloren haben?
Die Themen, die die Teilnehmer bewegen, können ganz unterschiedlich sein. Manchmal geht es vor allem darum, sich mit den Umständen des Todes auseinanderzusetzen, bei anderen Teilnehmern steht stärker der Umgang mit dem Verlust im Vordergrund, also wie möchte man sein zukünftiges Leben gestalten und den verstorbenen Bruder oder die Schwester integrieren. Häufig gibt es Schwierigkeiten in der Familie, zum Beispiel Konflikte mit den Eltern. Verständlicherweise möchten die meisten trauernden Geschwister ihre Eltern schonen und trauen sich dann nicht, schwierige Themen anzusprechen. So kann es beispielsweise vorkommen, dass sie das Gefühl haben, in ihrer Trauer gar nicht richtig gesehen zu werden. Manchmal geht es auch um die Bearbeitung von Schuldgefühlen, beispielsweise nach Suiziden. Ich würde sagen, dass Teilnehmer, die ihr Geschwister im Kindesalter verloren haben, grundsätzlich die gleichen Themen haben wie Teilnehmer, bei denen der Verlust eingetreten ist, als sie schon erwachsen waren. Doch es können noch weitere Themen dazu kommen. Es kann zum Beispiel sein, dass erst im Erwachsenenalter bewusst wird, dass der Verlust gar nicht richtig verarbeitet wurde und dass man manche Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Tod anders bewertet als im Kindesalter. Das kann manchmal sehr schmerzhaft sein. Manchmal kommt es auch vor, dass das Umfeld nicht verstehen kann, warum das Geschwister sich nun, nach so langer Zeit noch einmal mit dem Tod des Bruders oder der Schwester beschäftigen möchte. Dann kommt die Frage auf, wann es denn „genug“ ist mit der Beschäftigung mit dem Verlust – und das kann zu Konflikten führen.

5. Wie kann das Schreiben helfen, mit diesen Themen und dem Verlust insgesamt besser umzugehen?
Die therapeutische Wirkung des Schreibens wurde schon in den achtziger Jahren festgestellt, als man Menschen, die schwierige Lebensereignisse erlebt hatten bat, darüber zu schreiben. Beruhend auf diesen Ergebnissen wurden die Internetbasierten Behandlungen in den Niederlanden an der Universität von Amsterdam entwickelt und inzwischen belegen zahlreiche Studien eine hohe Wirksamkeit der Behandlungen. Diese Verbesserung konnte auch in Langzeituntersuchungen bestätigt werden. Das Schreiben hilft dabei, Probleme und das eigene Verhalten neu zu überdenken und es wird das Gefühl entwickelt, wieder die Kontrolle über die Situation zu gewinnen. Es können neue Sichtweisen entwickelt werden und Probleme können auf eine andere Art und Weise betrachtet und gelöst werden. Durch die individuelle Rückmeldung der Therapeuten kann der Patient seine Situation und seine Probleme reflektieren und bekommt Unterstützung bei der Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten.

6. Welche Rückmeldungen bekommen Sie von den Teilnehmern?
Wir bekommen sehr viel positives Feedback von den Teilnehmern, worüber wir uns natürlich sehr freuen. Nach unserem Eindruck kann die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer von dem Programm profitieren indem sie sich noch einmal mit dem Verlust auseinandersetzen. Viele Teilnehmer fanden die einzelnen Schreibaufgaben und vor allem auch die Rückmeldungen sehr hilfreich. Die Auseinandersetzung mit den Umständen des Todes wird zunächst oft als anstrengend und belastend empfunden; im Anschluss sind die Teilnehmer aber erleichtert, dass sie das geschafft haben. Wir hoffen natürlich, dass die wissenschaftliche Auswertung der Studiendaten das subjektiv positive Bild der Teilnehmer bestätigen wird. Und wir wünschen uns, dass zukünftig vielen weiteren trauernden Geschwistern mit der Online-Schreibtherapie geholfen werden kann, ihre Trauer zu verarbeiten.

Vielen Dank für die ausführlichen Antworten.

Schreiben

Du musst loslassen, sagen sie. Aber ich kann nicht. Ich kann nicht loslassen, denn das fühlt sich wie verlieren an, und ich habe schon einmal verloren. Wenn ich jetzt loslasse, dann ist meine Schwester weg, für immer.
Du musst darüber reden können, sagen sie, und ich fange an, zu schreiben. Weil Schreiben viel einfacher geht als Sprechen. Schreiben ist meine Muttersprache.

Bevor ich mit dem Schreiben beginne, laufen Bilder in Dauerschleife in meinem Kopf. Bilder von dem Tag, an dem meine Schwester gestorben ist, Bilder von der Beerdigung und Bilder von meinem Opa, der mir vier Vogelhäuschen schenkt. Bilder vom blauen Sitzsack und Bilder von einer Therapeutin, Bilder, wie wir am Grab stehen. Bilder von einer Igel-Prinzessin. Damit ich das nicht vergesse. Weil mein Kopf hat unglaublich Angst zu vergessen. Als ich anfange, die Geschichten zu den Bildern aufzuschreiben, wird es ruhiger in meinem Kopf. Die Bilder sind an einem anderen Oft gespeichert, jetzt.
Bevor ich mit dem Schreiben beginne, ist meine Schwester schon lange kein Mensch mehr. Meine Schwester ist die Behinderte mit dem kaputten Gehirn, die nichts denken und fühlen konnte. Die nicht sehen und nicht reden und nicht laufen konnte. Die sich nicht bewegen konnte und die nichts essen wollte. Die, die überhaupt nichts konnte und die, die auch niemand vermisst, deswegen. Und ich fange an zu schreiben, und plötzlich ist sie jemand. Jemand, den ich so sehr vermisse, so sehr wie niemand sonst. Jemand, der mich beschützt und geliebt hat. Jemand, dessen Lieblingsfarbe Rot gewesen ist. Eine Igel-Prinzessin, die hier gewesen ist.
Bevor ich mit dem Schreiben beginne, wird die Geschichte von meiner Schwester nur auf eine Art und Weise erzählt. Meine Eltern erzählen in kurzen, wenigen, immer gleichen Sätzen. Wie wir geboren wurden, dass sie nichts konnte, dass sie nie essen wollte. Dass sie gestorben ist. Über meine Gedanken und Gefühle und Erlebnisse erzählt niemand, wie auch?
Und ich fange an zu schreiben, in ein Buch mit leeren Seiten, meine Geschichte. Keiner, der mir sagt, dass ich so nicht fühlen oder denken darf, Freiheit.
Bevor ich mit dem Schreiben beginne, habe ich Angst vor dem Tag, an dem ich feststelle, dass ich über alles geschrieben habe.
Bevor ich mit dem Schreiben beginne, habe ich Angst davor, was andere darüber sagen könnten.
Und dann schreibe ich nur noch, erst ganz schnell, weil alles heraus will, und später langsamer. Das Schreiben setzt unglaublich viel Energie in mir frei, ich freue mich, ich fühle mich leichter. Ich bin manchmal überrascht, wie stark ich bin, so stark.

Meine Schwester ist hier eine Igel-Prinzessin, meine Schwester und ich haben hier einen Ort. Hier sind Leute, die meine Schwester so kennenlernen wie ich, das ist wunderbar. Leute, die mit ihren Gedanken, ihren Geschichten und Fragen dazu beitragen, dass sich meine Gedanken und Gefühle ordnen und sortieren.

Endlich habe ich meine Geschichte aufgeschrieben. Ich habe keine Angst mehr, es fühlt sich gut an.
Ich glaube nicht mehr, dass ich meine Schwester loslassen muss oder dass ich über ihren Tod reden muss. Ich glaube nur, dass man irgendwas tun muss, damit man nicht platzt. Schreiben zum Beispiel.