Bücher über den Tod

Ich las sehr gerne. Manchmal kam in den Büchern, die ich las, auch der Tod vor.
Das Buch „Brüder Löwenherz“ von Astrid Lindgren las ich sehr gerne, besonders den Anfang, immer und immer wieder. Weil die Geschichte mich an meine eigene erinnerte, und dann wieder nicht. Zwei Brüder, der eine krank, und es ist klar, dass er bald sterben muss, der andere gesund. Und dann stirbt der gesunde Bruder vorher, er rettet seinen Bruder, als das Haus brennt, und stirbt dabei. Etwas später stirbt auch der kranke Bruder, und sie sind wieder vereint.
Die ganze Geschichte von den Brüdern Löwenherz war sehr traurig, aber es war wunderschön, dass sie nicht alleine tot sein mussten.
Mir gefiel immer sehr gut, dass der gesunder Bruder sich so gut um seinen Bruder kümmert, mit ihm so lieb redet und ihm dann sogar das Leben rettet. Und es machte mich gleichzeitig wahnsinnig sauer, weil ich wollte das gleiche für meine Schwester tun, und es ging nicht mehr, weil sie war tot. Ich war überzeugt davon, dass in unserer Geschichte etwas falsch gelaufen war – denn es hatte bei uns nicht gebrannt und sie war tot und ich nicht. Ich fühlte mich schlecht, weil ich nicht vor ihr gestorben war.
Etwas später las ich, dass Astrid Lindgren auf die Idee für das Buch gekommen war, als sie auf dem Friedhof das Grab zweier Brüder gesehen hatte. Das machte mich auch wütend, denn es war ja klar, dass wenn Astrid Lindgren am Grab meiner Schwester vorbei kam, sie gar nicht auf den Gedanken kommen würde, dass es mich auch gab. Sie konnte ja dann nicht wissen, dass meine Schwester noch eine Zwillingsschwester hatte, und dass ein Fehler passiert war und kein Brand, und dass ich meine Schwester auch retten wollte, aber das nicht ging.

Ich hatte auch ein anderes Buch, in dem der Tod vorkam. Es hieß „Gänseblümchen für Christine“. Sehr faszinierend fand ich, dass das Mädchen in dem Buch eine Schwester hatte, die so ähnlich wie meine Schwester war, und genau wie meine Schwester an ihrer Behinderung starb. Ich kannte sonst keine Kinder, die so waren wie meine Schwester.
Der erste Satz des Buches lautete: „Heute Nacht ist Christinchen gestorben.“ Und ich merkte ihn mir und fand ihn sehr gut, weil er so klar und so schmerzhaft war. Ich nahm mir vor, später auch ein Buch zu schreiben, und der erste Satz würde sein: „Heute Morgen ist meine Schwester gestorben.“ Und vielleicht würde ich dann noch etwas dazu schreiben und vielleicht auch nicht.
Beim Lesen war ich manchmal sehr wütend auf das Mädchen in dem Buch, weil ich fand, sie sollte ihre Schwester lieb haben und darüber traurig sein, dass sie tot ist. Manchmal weinte ich heimlich beim Lesen. Manchmal überlegte ich lange Zeit, ob meine Schwester gestunken hatte oder nicht (die Schwester des Mädchens hat nämlich gestunken).
Ich fühlte mich überhaupt nicht so, wie das Mädchen in dem Buch, und ich hätte lieber von einem Mädchen gelesen, das so fühlte wie ich. Es machte mich traurig, dass Christine nicht so geliebt wurde, wie sie war.

Weil du mir so fehlst – Buchvorstellung, Interview und Verlosung

Heute möchte ich euch das Buch „Weil du mir so fehlst“, geschrieben von der Trauerbegleiterin Ayse Bosse mit Ilustrationen von Andreas Klammt, vorstellen. Es ist im September 2016 im Carlsen Verlag erschienen.

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Das Buch richtet sich ab Kinder ab vier Jahren, die jemanden verloren haben. Am Anfang des Buches sieht man den Bären, wie er auf seinem Lieblingsplatz liegt. Er ist traurig und ängstlich und wütend, weil jemand gestorben ist, den er sehr lieb hatte. „Das ist gemein, dass jemand, den man lieb hat, nie wieder zurückkommt“, sagt der Bär.

Viele der Seiten des Buches kann man mit eigenen Gedanken und Bildern füllen. Es gibt Platz zum Einkleben von Fotos, Platz für Fragen und Platz, um seine Gefühle und Erinnerungen aufzuschreiben, Ideen für eine Trostsuppe oder ein Rezept für Trauerklöße.

In dem Buch erkenne ich viele der Gedanken und Fragen wieder, die ich als Kind nach dem Tod meiner Schwester hatte. Zum Beispiel sagt der Bär: „Können doch alle immer leben. Ist doch Platz genug“, oder er findet es seltsam, dass alles einfach so weitergeht, und spricht damit Gedanken aus, die bestimmt viele Kinder (und auch Erwachsene) haben. Es werden verschiedene Fragen und Themen aufgegriffen: Dass Trauer nicht nur Traurigsein bedeutet, sondern ganz viele verschiedene Gefühle; dass man trotz Trauer auch mal fröhlich sein darf; was dabei hilft, mit der Trauer zurechtzukommen; dass man Weinen kann aber nicht muss; wie es dort wohl aussieht, wo der Verstorbene nun ist. Und vor allem, dass jedes Kind trauern darf, wie es will.

Das Buch kann Erwachsenen und Kindern dabei helfen, über den Tod und die Gefühle, die damit zusammenhängen, zu sprechen. Vielleicht hilft es Erwachsenen dabei, zu verstehen, welche Gedanken und Gefühle und Ängste Kinder haben können. Und Kindern hilft es, zu sehen, dass sie nicht allein sind und dass sie ernst genommen werden. Zudem kann das Buch mit den selbstgestalteten Seiten eine wertvolle Erinnerung werden.

Was mir außerdem gefällt, ist, dass das Buch offen ist, egal, um wen man trauert. Man erfährt nicht, um wen der Bär genau trauert. Man sich in ihn hineinversetzen und an die Person denken, um die man trauert und erzählt so seine eigene Geschichte.

 

„Wenn man darüber redet, wird die Angst kleiner“ – Interview mit der Autorin und Trauerbegleiterin Ayse Bosse

1. Wie sind Sie dazu gekommen, eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin zu machen?
Vor meinem Entschluss die Ausbildung zu machen habe ich ehrenamtlich in einem Tageshospiz für Kinder geholfen. Dort werden schwer kranke Kinder morgens abgeholt und bis zum Abend betreut, um die Familien zu entlasten. Ich war damals mit meinem Job als Schauspielerin nicht so richtig glücklich. Ich hatte das Bedürfnis etwas zu tun, das sich nicht immer nur um meine Person dreht, sondern etwas Sinnvolles. Ich habe dort eine Trauerbegleiterin kennengelernt und nachdem dann im Jahre 2013 mein Vater und zwei Jungs, die ich betreut hatte, gestorben sind, war mir klar, dass ich mit all der Trauer, die mich da erwischt hatte etwas nach vorne tun muss, aktiv werden muss.

So habe ich dann die Ausbildung begonnen. Eigene Erfahrungen mit Verlust sind natürlich gut für die Arbeit als Trauerbegleiterin.

2. Wann und wie kamen Sie auf die Idee für das Buch?
Während unserer Ausbildung mussten wir uns für ein Thema für eine Abschlussarbeit entscheiden und ich habe schnell gemerkt, dass mich das Thema Kinder und Trauer sehr interessiert. Ich habe selbst eine Tochter und wir haben gemeinsam um den Opa getrauert. Ich habe bemerkt, dass ich viel von ihr lernen kann. Kinder sind so wunderbar. Wunderbar offen, wenn sie sich ernstgenommen fühlen, besonders sensibel und klar in ihren Vorstellungen zu dem Thema.

Für meine Abschlussarbeit habe ich viele Kinder zum Thema Trauer interviewt und währenddessen kam mir schon die Idee zum Buch. Ich wollte all das in Worte fassen, was ich von den Kindern gelernt hatte, damit andere Kinder sehen, dass sie nicht alleine sind und absolut nichts falsch machen beim Trauern. Die Großen trauern eben anders als die Kleinen und Kinder denken dann oft, dass sie etwas falsch machen oder Erwachsene denken Kinder trauern nicht genug oder nicht richtig. Beides ist falsch. Beim Trauern ist alles erlaubt! Mit dem Buch möchte ich dazu ermutigen, gemeinsam zu trauern, sich gegenseitig zu trösten, voneinander zu lernen und aktiv zu sein in der Trauer.

3. Ich empfinde die Sprache in dem Buch als sehr klar und absolut treffend. Es bringt vieles, was ich als Kind gedacht habe, auf den Punkt. Wie leicht ist es Ihnen gefallen, die richtigen Worte zu finden?

Wir waren doch alle mal Kinder.
Ich glaube so richtig erwachsen geworden bin ich nie.
Deshalb ist es mir sehr leicht gefallen, ausserdem hatte ich ja durch die Kinder mit denen ich zu tun hatte die besten Inspirationen. Viele Formulierungen im Buch wie: „Tod ist doof“ oder „ Wenn man drüber redet, wird die Angst kleiner“, kommen von den Kindern.

4. Welche Erfahrungen mit Tod und Trauer haben Sie selbst als Kind  gemacht?

Ich habe als Kind total viel über den Tod nachgedacht. Das ganze hat mir immer ganz schön angst gemacht, mich aber auch total fasziniert. Meine Mutter erzählte mir neulich, dass ich als 6jährige einmal ganz plötzlich angefangen habe zu weinen und gesagt habe, dass ich gerade sehr traurig darüber bin, diese Welt eines Tages verlassen zu müssen…

Ansonsten wären da: die Goldhamster, das Kaninchen, der Hund, die Katze, die Oma, eine Schulkameradin und auch der Bruder einer Freundin. Es gab eigentlich immer Anlass für mich über den Tod nachzudenken.

5. Welche Vorstellungen haben Kinder vom Tod, wie empfinden sie den Verlust?
Jeder ist anders, das kann man pauschal gar nicht sagen, wie Kinder den Tod wahrnehmen und mit Verlust umgehen. Sehr unterschiedlich würde ich sagen. Der eine ist wütend, der andere lenkt sich viel ab, der dritte braucht besonders viel Liebe und Kuscheln usw. Ausserdem ist natürlich das Alter auch ein Faktor. So richtig kapieren können Kinder das mit dem Sterben und dem endgültig-für-immer-weg-Sein wahrscheinlich erst mit sechs bis acht Jahren, das kommt immer darauf an, wie viel auch zu Hause oder in der Schule schon darüber gesprochen wurde und welche Erfahrungen schon gemacht wurden.

Wenn ein geliebter Mensch im engsten Umkreis eines Kindes stirbt, ist auf einmal alles anders und das bringt dann natürlich die ganze Welt des Kindes ins Wanken. Wenn dann auch noch nicht mit dem Kind über den Todesfall kommuniziert wird, fühlt es sich völlig allein und durcheinander. Oft denken Erwachsene, man muss Kinder vor Details schonen, die mit dem Tod zu tun haben, aber Kinder brauchen Informationen, genauso wie wir Großen, um besser zu begreifen, was da passiert ist.
Apropos Begreifen: Den Toten noch mal sehen und auch anfassen, wenn das möglich ist, hilft beim Begreifen und ist bei weitem nicht so schlimm für Kinder, wie vielleicht viele denken. Natürlich muss das Kind frei für sich entscheiden. Ich habe damals meine Tochter gefragt, ob sie Opa noch mal sehen möchte. Sie war da sieben und wollte. Wir haben dann darüber gesprochen, warum er so gelb aussieht und dass seine Hände so kalt waren. Klar klingt das erst mal krass, aber sie ist alles andere als traumatisiert durch diese Erfahrung. Ganz im Gegenteil, sie hat sich einbezogen, ernstgenommen und als ein Teil der Familie gefühlt und zusammen ist man nun mal stärker. Sie hat auch gesagt, sie hat es sich vorher viel schlimmer vorgestellt. Genau das passiert oft, dass Kinder, die so etwas nicht selbst erfahren können, dann die schlimmsten Zombie-Fantasien und Albträume bekommen.

6. Welche Fragen/ Themen/ Ängste beschäftigen Kinder, die einen lieben Menschen verloren haben? Gibt es Themen, mit denen sich besonders Kinder auseinandersetzen, die ein Geschwisterkind verloren haben?
Die unterschiedlichsten Fragen beschäftigen ein Kind nach einem Verlust. Wichtig ist, dass man ihnen signalisiert, dass man bereit ist mit ihm über diese Fragen zu sprechen. Es ist dann übrigens völlig in Ordnung sagen zu müssen : „Du, auf diese Frage kann ich dir leider keine Antwort geben“, denn es gibt nicht immer eine Antwort… „Ich stelle mir das so oder so vor“ …oder „ich weiß es leider nicht“.

Kinder können nach einem Verlust die verschiedensten Ängste entwickeln, auch Wut und Schuldgefühle. Wichtig ist, dass sie damit nicht alleine gelassen werden. Wenn man sich als Eltern, auch aufgrund der eigenen Trauer, damit überfordert fühlt, rate ich ganz unbedingt zu einer Trauerbegleitung. In Form von Einzel- oder Gruppenbegleitung. Es ist oft total gut, mal mit Leuten über alles zu reden, die nicht selbst betroffen sind.

Ich glaube, ein Geschwisterkind zu verlieren ist mit das Schlimmste, was einem Kind passieren kann. Geschwister von verstorbenen Kindern haben oft extreme Schuldgefühle, sie haben Angst davor, am Tod der Schwester oder des Bruders Schuld zu sein, sie fühlen sich schuldig, dass sie noch da sind und der andere nicht, vermissen ihre Geschwister, sehen ihre Eltern so sehr leiden und bemühen sich oft durch große Anstrengung irgendwie die Lücke zu füllen, was ihnen natürlich nicht gelingt.

7. Wie lassen sie Kinder in ihrer Trauer begleiten und unterstützen?
Es ist für trauernde Kinder essentiell wichtig zu wissen, dass beim Trauern alles erlaubt ist, dass sie dabei nichts falsch machen können, dass sie nicht schuld sind, dass sie nicht alleine sind, dass sie toll sind und geliebt werden, dass der Tod etwas ganz Normales ist und einfach dazu gehört, dass sie sich ernstgenommen fühlen, dass Erwachsene auch mal schwach sind und auch mal keine Antwort wissen, zu kuscheln, gemeinsam schöne Rituale machen für den Verstorbenen, Liebe, Liebe , Liebe.

8. Was können Erwachsene beim Umgang mit Verlust, Abschied und Trauer von Kindern lernen?
Erwachsene können vielleicht durch Kinder lernen etwas offener mit dem Thema umzugehen und es nicht totzuschweigen. Denn wenn man darüber redet, wird die Angst kleiner…auch die der Erwachsenen.

Kinder können sehr gut in halbwegs verdaubaren Portionen trauern und dann wieder ganz gut abschalten, spielen und fröhlich sein, auch das wäre gesund für Erwachsene.

Niemand, der gestorben ist, möchte das seine Liebsten immer traurig sind! Im Gegenteil.

Liebe Frau Bosse, danke für das Interview.
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Ayse Bosse hat mir ein Exemplar des Buches zur Verfügung gestellt, das ich gerne an euch verlosen möchte. Wenn ihr das Buch gewinnen möchtet, schreibt einfach bis zum 06.12.2016 einen Kommentar unter diesen Beitrag. Unter allen, die bis dahin kommentiert haben, werde ich das Buch dann verlosen. Das Buch ist übrigens nicht nur etwas für Kinder, sondern auch für Erwachsene, finde ich.

Viel Glück!

Wir Kinder und der Tod

Wir Kinder, wir wissen vielleicht nicht vorher, dass jemand sterben wird. Weil, wir kennen den Tod noch nicht. Und nur, weil jemand krank ist oder manchmal ganz blau im Gesicht wird, weil er keine Luft mehr bekommt, wissen wir doch nicht, dass jemand sterben wird. Woher sollen wir das wissen? Wir leben und glauben, dass wir unsterblich sind. Vielleicht sterben alte Menschen, vielleicht. Aber meine Schwester war ein Kind, und Kinder sterben nicht, und dass sie manchmal blau wurde, gehörte zu ihr, wie andere Kinder viele Sommersprossen haben oder gerne tanzen. Und meine Schwester wurde eben manchmal blau, na und, deshalb muss sie doch nicht sterben.

Also sagt es uns, dass jemand sterben wird, wenn es so ist und ihr es wisst, denn wir wissen es nicht. Geht nicht davon aus, dass wir es wisssen, weil vielleicht wissen wir es nicht, weil Blauwerden für uns nicht mit dem Tod verknüpft ist. Redet mit uns darüber, damit wir irgendwie darauf vorbereitet sind, und dass wir Abschied nehmen können. Wenn diese Person dann stirbt, dann sind wir trotzdem geschockt und durcheinander, und später vielleicht traurig und wütend, aber es trifft uns vielleicht nicht ganz so unvorbereitet. Dann können wir vielleicht besser verstehen, was passiert, was wir fühlen, und fühlen uns nicht mehr ganz so ohnmächtig und hilflos.

Und wenn jemand gestorben ist, dann lasst uns nicht irgendwo am Rand stehen, als wären wir nicht da. Wir wollen uns nicht ausgeschlossen fühlen und als unzureichend empfinden, nur weil wir keine Worte haben und keine Tränen. Nur weil wir nicht weinen und nicht reden, weil wir vielleicht gar keine Worte haben dafür, weil wir das nicht kennen und die Gefühle zu viele sind und zu schmerzhaft. Vielleicht hat unsere  Trauer nicht so viel zu tun mit Weinen und Reden, vielleicht spielen wir und tun so wie immer, weil wir nicht wollen, dass sich etwas ändert. Nur, wir brauchen trotzdem jemand, der uns hält und bei uns ist und uns nicht allein lässt. Wenn jemand stirbt, dann ist das vielleicht zu schmerzhaft für uns allein.

Vielleicht muss man uns Beerdigungen erklären. Denkt nicht, dass wir etwas, nur weil es immer so gemacht wird, verstehen. Weil Dinge, die man liebt, vergräbt man doch normalerweise nicht in der Erde. Vielleicht muss man uns auch Trauerfeiern und Gottesdienste erklären, und warum sich alle schwarz anziehen und warum ich dieses doofe Kleid anziehen soll.

Wir Kinder, wir sind gut darin, uns neue Ordnungen zu überlegen, um die Sicherheit unserer Welt wiederherzustellen. Wir können uns den Tod anderer mit unserem eigenen Handeln erklären, weil wir daran glauben, dass alles, was passiert, mit uns zu tun hat. Erklärt uns, warum jemand gestorben ist, immer und immer wieder, damit wir es verstehen lernen.

Lasst uns Fragen stellen, immer wieder gleiche und andere Fragen, Fragen die euch albern vorkommen. Auch Jahre später noch, denn unser Denken verändert sich, je älter wir werden und unsere Fragen verändern sich damit auch. Redet mit uns darüber, damit wir nicht immer die sein müssen, die davon anfangen. Wenn ihr nicht davon redet, denken wir, ihr hättet kein Interesse oder hättet schon vergessen, was passiert ist, und wir fühlen uns dumm und schweigen und bleiben allein.

Lasst uns Bilder malen und Briefe schreiben und schreien und wütend sein und traurig. Wir brauchen andere, die uns zeigen, wie man das macht mit diesen Gefühlen, dass man traurig sein kann und weinen und lachen. Wir brauchen jemand, der mit uns redet, damit wir herausfinden können, was wir fühlen und wie man damit umgehen kann, und damit wir nicht allein bleiben. Wir brauchen Ausdrucksformen, für das, was in uns ist.

Bleibt bei uns, wenn wir erkennen, dass auch wir hätten sterben können und werden, und wenn uns ganz schwindelig wird bei diesem Gedanken.

Wir Kinder, wir haben noch nicht gelernt, wie man Erinnerungen konserviert. Wir brauchen jemand, der Fotos für uns macht, der für uns sammelt, der uns erzählt, wie es war, ein Stück von unserem Leben.

 

Da war noch so viel Liebe übrig

Als ich ein Kind war, stellte ich mir vor, dass die Liebe durch Rohre durch meinen Körper floss. Die Rohre gingen von dort, wo das Herz ist, in den Kopf und in die Arme und in die Beine, und dort floss die Liebe hindurch. Rot war die Liebe und blitzschnell und ich hatte viel davon. Ich liebte meine Prinzessinnen-Schwester und meine anderen Geschwister und meine Eltern und ein paar andere Leute und so Dinge wie  Barfußlaufen und Grashalme, die so groß waren wie ich. Die Liebe, so stellte ich mir jedenfalls vor, lief durch das Rohrsystem und ich hatte nie Probleme damit – bis meine Schwester starb.

Als meine Schwester starb, fühlte es sich so an, als wären die Rohre verstopft, und als könnte die Liebe nicht mehr weiterfließen. Die Liebe konnte nicht mehr weiterfließen, denn sie wusste ja gar nicht wohin, meine Schwester war ja tot. Dass man auch tote Menschen lieben kann, das wusste ich nicht, das hatte mir keiner gesagt. Ich hatte Schmerzen, im ganzen Körper und vor allem dort, wo das Herz ist, und ich stellte mir vor, dass daher kam, dass die Rohre verstopft waren und sich die Liebe dort staute.

Weil alles so wehtat, und es sich anfühlte, als würde mein Herz platzen, hatte ich Angst, dass ich nun auch sterben würde. Wenn das Herz platzt, weil da zuviel Liebe drin ist, dann stirbt man. Ich musste schnell eine neue Prinzessin finden, die ich lieben konnte, damit mein Herz nicht platzte. Da war noch so viel Liebe übrig.

Ich habe Angst, weil die sterben immer

Als meine Schwester starb, konnte ich mir nicht erklären, warum sie gestorben war. Ich wusste, dass man bei einem Autounfall sterben konnte oder weil man alt war, oder weil man etwas Gefährliches gemacht hatte. Meine Schwester war nicht alt und sie hatte nur auf dem Sofa gelegen, und sie machte auch keine gefährlichen Dinge. Ich machte manchmal gefährlich Dinge, manchmal kletterten wir auf hohe Bäume und meine große Schwester sagte dann: „Wenn wir da runter fallen, sind wir tot“, und ich sah ehrfürchtig hinunter und meine Knie zitterten etwas und es war alles sehr aufregend und schön, aber meine Schwester machte sowas nicht. Sie kletterte nicht auf Bäume und sie ging auch nicht allein über die Straße, sondern es war immer jemand da, der auf sie aufpasste und sie im Wagen schob, oder sie lag auf dem Sofa, und da konnte ich mir wirklich nicht vorstellen, woran sie sterben sollte.

Die Erwachsenen erklärten mir, dass sie wegen der Behinderung gestorben war, und weil sie krank gewesen war. Die Behinderung, das war, dass sie nicht laufen und sprechen und nicht alleine essen konnte und so. Und wir waren manchmal krank, dann mussten wir inhalieren, damit wir wieder gesund wurden, und auf dem Sofa liegen und dann gingen wir nicht in den Kindergarten. Und dann wurden wir wieder gesund und dann gingen wir wieder in den Kindergarten. Das verstand ich, aber warum sie deshalb nun plötzlich gestorben war, das verstand ich nicht. Meine Schwester war schon immer so gewesen, behindert, wie die Erwachsenen sagten, so war meine Schwester einfach, und das war doch eigentlich der Beweis dafür, dass sie nicht wegen der Behinderung gestorben war. Warum sollte sie nun daran sterben, dass sie so war, wie sie eben war? Nur weil man nicht laufen und sprechen und allein essen kann und so, nur deswegen muss man doch nicht sterben.

Aber ich war auch erleichtert, dass die Erwachsenen sagten, dass meine Schwester wegen der Behinderung gestorben war, weil das bedeutete, dass ich keine Angst haben musste, dass meine Mama oder mein Papa oder meine anderen Geschwister auch sterben könnten. Denn sie waren ja nicht behindert, und deshalb würden sie nicht sterben, und deshalb musste ich davor auch keine Angst haben.

Behinderte Menschen sterben. Lange Zeit nach dem Tod meiner Schwester hatte ich Angst vor behinderten Menschen. Ich dachte, jeder, der eine Behinderung hatte, würde bald sterben, so wie meine Schwester gestorben war, und das wollte ich nicht, und deshalb hatte ich Angst, und deshalb wollte ich nichts mit behinderten Menschen zu tun haben. Ich hatte Angst vor Menschen mit Behinderung, weil ich Angst vor dem Tod hatte. Wenn ich daran dachte, an die behinderten Menschen, die bald sterben würden, immer nur sterben, wurde ich sehr traurig.

Manchmal trafen wir unterwegs Kinder oder Erwachsene, die auch behindert waren, jedenfalls sagte das meine Mama. Zuerst hatte ich Angst, weil ich wollte nicht, dass jemand stirbt, und dann war ich doch neugierig, und schaute, und schaute noch ein bisschen mehr, und dann sagte ich: „Nein, der ist nicht behindert, der kann doch lachen.“ Oder: „Nein, das kann nicht sein, der hat geredet.“ Und dann war ich froh, weil, wenn man lachen kann oder sprechen, dann ist man nicht behindert, und dann muss man auch nicht sterben, und das ist gut.
Ich traf sehr selten auf behinderte Menschen, aber dafür oft auf Menschen, die sehr gut lachen und singen und tanzen konnten und die manchmal verwunderliche und seltsame Dinge taten, und die Erwachsenen sagten: „Der ist behindert.“ Langsam verstand ich, dass Behinderung auch Lachen und Singen und Tanzen und lustige Dinge und Leben bedeutet, und ich hatte keine Angst mehr vor Menschen mit Behinderung.

 

 

Ich habe meiner Schwester nicht Tschüss gesagt

Ich habe meiner Schwester nicht Tschüss gesagt.

Ich weiß nicht genau, warum nicht, denn dass man Tschüss sagen und höflich sein soll, das bekommt man ja schon früh beigebracht. Vielleicht war es, weil sich alles in mir eingefroren anfühlte und starr und alles wehtat und ich gar nicht so schnell verstand, vielleicht habe ich ihr deshalb nicht Tschüss gesagt.

Normalerweise war es so, dass die Erwachsenen sehr gut aufpassten, dass man sich benahm und „hallo“ und „tschüss“ und „danke“ sagte. Wenn man in der Metzgerei ein Stück Fleischwurst bekam oder wenn man irgendwas anderes bekam. Im Kindergarten gab es die Regel, dass man der Erzieherin die Hand geben und „tschüss“ sagen musste, jeden Tag, wenn man abgeholt wurde und nach Hause ging. Ich mochte das überhaupt nicht, ich fand das blöd, und meine anderen Geschwister fanden das auch blöd, und trotzdem machten wir es, weil es diese Regel gab.
Dummerweise gab es keine Regel dafür, wie man sich verhalten soll, wenn die Schwester gestorben ist. Und die Erwachsenen, die sonst so gut aufpassten, ob man höflich war, passten nicht auf, ob ich „danke“ und „tschüss“ sagte, denn sie waren beschäftigt mit Weinen und Traurigsein und Reden. Das war sowieso komisch, denn ich hatte meine Eltern nie zuvor weinen sehen, und nun weinten sie und achteten nicht mehr auf Regeln, das war komisch und auch ziemlich besorgniserregend.

Ich sagte ihr also nicht Tschüss, ich blieb dort stehen, wo ich stand, bewegungslos, sie lag tot in ihrem Sitzsack ein paar Schritte von mir entfernt, aber so fern, unglaublich fern, und die Angst war in meinem Körper ausgelaufen.
Erst später, als sie schon in der Erde vergraben war, fiel mir auf, dass ich ihr gar nicht Tschüss gesagt hatte. Ich war traurig deswegen, dass ich sie nicht nochmal umarmt oder gestreichelt oder ihre Hand gehalten hatte.

Denn ich weiß gar nicht mehr, wie sie sich anfühlte.

Hallo, wir haben etwas verloren, wir müssen nochmal zurückgehen

Das vielleicht Merkwürdigste an dem Tod meiner Schwester war, dass die Welt danach einfach weiterlief, als sei nichts passiert. Das Radio lief weiter, die Busse fuhren, die Menschen gingen spazieren und einkaufen und zur Arbeit und auf den Spielplatz, im Kindergarten saßen die Erzieherinnen am Tisch, tranken Kaffee und unterhielten sich, wie sie es immer taten, die Kinder spielten und stritten sich und waren laut. Meine Schwester starb, und es änderte sich nichts. Überhaupt nichts. Das war merkwürdig, mehr als merkwürdig, fand ich, und fast nicht auszuhalten.
Ich hätte es verstanden, wenn mit dem Tod meiner Schwester die ganze Welt zerborsten wäre. Oder wenn alle Menschen bewegungs- und lautlos geworden wären. Wenn die Welt stehengeblieben wäre. Oder wenn es angefangen hätte stark zu regnen, und dieser Regen nie wieder aufgehört hätte. Das hätte ich verstanden, ja, nicht nur verstanden, sondern auch irgendwie erwartet, schließlich war meine Schwester gestorben. Oder ein lauter Knall, auf der ganzen Welt zu hören, das wäre doch das Mindeste gewesen.
Aber nichts dergleichen geschah. Das Leben lief weiter. Vielleicht, dachte ich,  vielleicht dauert es, bis alle wissen, dass meine Schwester tot ist. Ein paar Tage, doch dann, dann würde die Welt stehenbleiben.

Die Tage vergingen, und es lief immer noch alles so weiter wie vorher, das Radio und die Busse und die Menschen und die Kinder, und das verstand ich nicht. Meine Schwester war schließlich gestorben, und meine Schwester war ja nicht irgendwer, sondern eine Prinzessin. Es kann doch nicht sein, dass eine Prinzessin stirbt, und die Leute leben so weiter und tun so, als sei nichts passiert. „Hallo, wir haben etwas verloren! Wir müssen nochmal zurückgehen, solange, bis wir es wiedergefunden haben, und dann festhalten“, wollte ich den Menschen, die so taten, als sei nichts passiert, sagen. Ich wollte sie anschreien, damit sie endlich aufhören würden, sich zu bewegen, damit sie endlich ganz leise sein würden.

Aber ich schrie nicht. Ich war ganz leise, ganz leise, und versuchte, mich unsichtbar zu machen, und hoffte dabei, dass alles um mich herum auch unsichtbar werden würde. Das Radio, die Busse, die Menschen, die Kinder. Schließlich war meine Schwester gestorben.

Als meine Schwester starb, habe ich nicht geweint

Als meine Schwester starb, saßen unsere Eltern auf Stühlen neben der Heizung und weinten, und wir Kinder saßen auf dem Sofa und weinten nicht. Meine Schwester lag in ihrem Sitzsack und war tot. Ich war sehr geschockt, weil ich nie gedacht hätte, dass sie sterben würde. Ich hätte einfach nie damit gerechnet. Ich wusste, dass sie behindert war, aber dass sie sterben würde, das wusste ich nicht. Warum auch? Wie soll man denn bitte schön vom Herumliegen sterben?

Ich hatte schon Pläne gemacht, für uns beide. Mir war klar, dass es für sie später schwierig werden könnte, einen Mann zu finden, da sie ja nicht sprechen und nicht laufen konnte und auch vieles andere nicht. Deshalb hatte ich beschlossen, dass ich einen Mann für uns beide finden würde, den wir dann eines Tages gemeinsam heiraten würden. So war das geplant! So und nicht anders!

Irgendwann kam jemand, um sie in einen Sarg zu legen, auch das war nicht geplant.