Solange, bis ich mich wieder ganz lebendig fühle

Gebt mir jemand, der mit mir am Grab steht.

Gebt mir jemand, der mich nicht vom Grab wegzieht, sondern mit mir stehen bleibt. Jemand, der meine Hand hält, jemand, dessen Hände dabei nicht zittern, oder nur ein bisschen, denn meine zittern schon genug. Jemand, der mit mir hinunterschaut, bis ganz tief nach unten, solange, bis ich fertig bin damit. Jemand, der schweigt, und mich nicht ansieht. Jemand, der nicht fragt, wie es mir geht, oder es fragen will, sich aber nicht traut. Jemand, dem ich nicht erzählen muss, was passiert ist. Jemand, der einfach nur da ist. Jemand, der dabei nicht auf die Uhr schaut, sondern mit mir am Grab steht, als könnte er noch tausend Jahre so stehen. Jemand, der mich nicht aufheitern will. Jemand, der vielleicht ein bisschen versteht, wie es mir geht, und der ertragen kann, in diesem Augenblick nicht alles zu verstehen. Jemand, der sagt zwischen dem Schweigen: „Das ist ja ziemlich tief, oder?“, und dann weiter schweigt, und ich sage „ja“, oder gar nichts, und es ist alles richtig. Jemand, der einfach nur da ist.

Jemand, der mit mir am Grab steht, solange, bis ich fertig bin damit.

Jemand, der danach mit mir auf den Spielplatz geht und wir schaukeln ganz hoch, bis in den Himmel. Solange, bis ich mich wieder ganz lebendig fühle.

11 Gedanken zu “Solange, bis ich mich wieder ganz lebendig fühle

    1. Danke für deinen Kommentar. Ich hatte den Text eigentlich bezogen auf eine meiner Erinnerungen, als ich als Kind bei der Beerdigung meiner Schwester ganz allein am offenen Grab stand, und hinunter schaute und meine Oma mich wegzerrte und niemand da war, der einfach nur mit mir stehenblieb.
      Aber es passt heute noch immer…

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  1. Das gemeinsame Aushalten unbequemer Situationen und Momente fällt vielen Menschen so viel schwerer, als sie es sich selbst eingestehen würden. Sie laufen davon, vor offenen Gesprächen, ungeschönten Worten, offenen Gräbern und geben sich der Illusion hin, damit die „Dinge“ im Griff zu haben. Dass das in den meisten Fällen auf Dauer nicht funktioniert, funktionieren kann, ist dann im Nachhinein später oft sogar eine schmerzlichere Erfahrung, als sich dem Moment zu stellen, wenn er da ist.

    Ich kann Dir nur wünschen, dass Du heute immer einen Menschen an Deiner Seite hast, der für Dich da ist, egal, wie´s Dir geht. Der für Dich da ist, auch wenn die Welt um Dich herum durchdreht.

    Ich bin über Margarete und Eurer Interview auf ihrem Blog auf Dein Blog aufmerksam geworden.

    Danke für Deine offenen Worte, sie sind ein Geschenk!

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    1. Hallo Silke,
      ich danke dir für deine lieben Worte und freue mich, dass du hierher gefunden hast.

      Vielleicht hast du Recht, und vielen Menschen fällt es einfach schwer, mit diesen Momenten umzugehen, mit dieser Trauer. Es ist gewiss auch schwierig zu erkennen, was ein Kind in diesem Moment denkt und fühlt und was es braucht oder nicht braucht. Und nicht nur bei Kindern ist das schwer, sondern auch teilweise bei Erwachsenen, und daher kommt dann vielleicht auch die Unsicherheit bei den anderen.

      Liebe Grüße

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  2. Ich bin durch deinen Kommentar bei mir auf deinen Blog gestoßen und sehr berührt von dem, was du schreibst. Danke, dass du deine Geschichte hier mit uns teilst. Ich hoffe, dass viele Menschen diesen Blog lesen und dadurch verstehen, dass der Umgang mit Trauer und besonders trauernden Kindern so alles andere als hilfreich ist.
    Deinen Wunsch nach jemandem, der einfach nur mit am Grab steht oder auch sonst einfach nur da ist und alles aushält, was da ist, kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich wünsche dir solche Menschen in deinem Leben, auch wenn es ein paar Jahre zu spät kommen mag.
    Ich werde deinen Blog weiter verfolgen und habe diesen Beitrag auch auf meiner Facebookseite geteilt. Ich hoffe, das ist ok für dich.
    Liebe Grüße
    Silke

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  3. Hallo Silke,
    ich danke dir für deine lieben Worte. (Dein Kommentar war – warum auch immer – in den Spam gerutscht, aber jetzt hab ich ihn gefunden! – Darum die späte Antwort.)
    Ich empfinde es als sehr wohltuend, zu erkennen, dass man nicht alleine ist mit diesen ganzen Gefühlen rund um die Trauer, und dass es Menschen gibt, die das nachvollziehen können und die sich Gedanken machen, auch deshalb finde ich deinen Blog so wertvoll.
    Ich freue mich darüber, dass du meinen Blog weiter verfolgen willst, und klar ist das ok, wenn du diese Beiträge teilst.
    Liebe Grüße

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  4. Mitten in meiner Trauer dachte ich mir mal, dass es auch gut wäre, wenn nicht nur das Elend in mir herrscht, sondern ich in Gedanken nur so für mich eine richtig gute Geschichte für Clara weiterstricken könnte. Ich bin ja nicht gaga und weiß, dass es nicht die Realität ist, aber weißt du, inzwischen weigere ich mich manchmal, mich mit so viel schlimmen Gefühlen anzufüllen, wie ich es bisher getan habe. Und vorher in meinem Leben auch. Ein Sammelbecke für Intensives, eben auch für Schlimmes. Auch deswegen, weil es ihr nicht gerecht wird, denke ich. Deshalb der Gedanke, einfach auch manchmal etwas gutes und schönes hinzuzudichten. In dem Wissen, dass es erfunden ist ein paar gute, schöne, wichtige Bilder in meinem Kopf unterzubringen. Ich übe noch. Danke, dass du mich auf meinem Blog besucht hast.

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    1. Hallo Manja,
      ich denke, dass positive Gedanken sehr wichtig sind und schöne und lustige Erinnerungem und Gedanken. Dass meine Schwester eine Igel-Prinzessin war, das ist ja auch irgendwie „dazuerfunden“ aber auch irgendwie wahr, weil ich so gedacht habe…
      Ich denke, man kann am Grab stehen und sich schwer und von Traurigkeit zugeschüttet fühlen und man kann auch danach auf den Spielplatz gehen und schaukeln und sich frei und froh und leicht fühlen…mit der Zeit, mit etwas Übung.

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