Trauernde Geschwister – Online-Präventionsprogramm

Heute möchte ich euch das Online-Präventionsprogramm für trauernde Geschwister vorstellen. Dazu habe ich die Psychologin Nicole Rosenberg, die am Projekt mitarbeitet, interviewt.

Ich habe selbst im Herbst 2017 an diesem Projekt teilgenommen. Auch wenn ich mich seit etwa zwei Jahren sehr intensiv mit dem Tod meiner Schwester beschäftige und vieles dazu auf diesem Blog geschrieben habe, hat es mir doch nochmal weitergeholfen. Ähnlich wie auf dem Blog konnte ich noch mal einiges aus mir „herausschreiben“ und habe genau wie auch hier sehr persönliche mitfühlende Rückmeldungen erhalten, die mich bestärkt und unterstützt haben. Deshalb möchte ich es hier vorstellen, sodass es vielleicht noch andere trauernde Geschwister erreicht. Bei der Teilnahme an dem Programm ist es egal, ob man seine Schwester oder seinen Bruder im Kindesalter oder im Erwachsenenalter verloren hat, man sollte nur über 16 Jahre alt sein.

Ich finde es sehr schön, dass es dieses Projekt gibt und dass es die therapeutische Wirkung des Schreibens in den Mittelpunkt stellt.

1. Woher kam die Idee für das Projekt? Wie sind Sie dazu gekommen?
Das Projekt „Trauernde Geschwister“ (www.trauernde-geschwister.org) wurde von Frau Prof. Birgit Wagner und dem Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister e.V. (VEID) ins Leben gerufen. Es ist ein Online-Präventionsprogramm speziell für Menschen, die einen Bruder oder eine Schwester verloren haben und in dieser Form einmalig im deutschsprachigen Raum. Das Projekt läuft an der Medical School Berlin unter der Leitung von Frau Prof. Wagner, die auch die Idee dazu hatte. Sie beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema Internettherapie und hat zahlreiche Studien dazu durchgeführt. Dabei fiel ihr auf, dass es kaum passende Angebote für Geschwister gibt, obwohl jedes Jahr etwa 20.000 Kinder und Jugendliche sterben, von denen sehr viele ein oder mehrere Geschwister hinterlassen. Frau Prof. Wagner entwickelte deshalb ein Therapieprogramm, das speziell auf Themen fokussiert, die für trauernde Geschwister wichtig sind, zum Beispiel die Beziehung zu den Eltern. Das Projekt ist in eine Studie eingebettet, so dass auch geschaut werden kann, ob das Schreibprogramm wirkt und wie effektiv es ist. Ich arbeite als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Medical School Berlin und bin seit Beginn des Projekts mit dabei. Zusammen mit meiner Kollegin Frau Uhlmann behandele ich die Patienten und betreue die Studie.

2. Seit wann läuft das Projekt schon und bis wann soll es laufen?
Das Projekt „Trauernde Geschwister“ ist im Jahr 2016 gestartet und seit Januar 2017 werden trauernde Geschwister von Diplom-Psychologinnen behandelt. Zunächst wird das Projekt bis Mitte 2018 laufen. Wir haben gesehen, dass der Bedarf an Unterstützung bei Geschwistern sehr groß ist und deshalb möchten wir das Projekt gern über einen längeren Zeitraum fortführen.

3. Wie läuft das Programm ab?
Bei dem Programm handelt es sich um ein 6-wöchiges Online-Therapieprogramm basierend auf einer Schreibtherapie für Jugendliche und Erwachsene im Alter zwischen 16 und 65 Jahren, die ein Geschwister verloren haben. Der Ablauf ist so, dass sich die Teilnehmer zunächst auf unserer Webseite (trauernde-geschwister.org) registrieren. Danach bekommen sie detaillierte Informationen zur Studie und eine Einwilligungserklärung zugesendet, die ausgefüllt an uns zurückgesendet werden muss. Anschließend sollen die Teilnehmer verschiedene Online-Fragebögen ausfüllen damit wir sehen können, wie es den Teilnehmern geht und ob sie für die Studie infrage kommen. Danach führen wir ein telefonisches Interview, in dem nochmals Fragen gestellt werden, zum Beispiel zur Stimmung und zu aktuellen Krisen. Wenn die Teilnehmer für das Programm geeignet sind, werden sie in das Programm aufgenommen und die Behandlung kann beginnen. Die Teilnehmer bekommen dann eine Therapeutin zugeordnet, die die Teilnehmer über die gesamte Behandlung begleitet. Falls das Programm nicht geeignet ist, findet durch uns eine persönliche Beratung zu Alternativen statt. Das Programm läuft ausschließlich online, also per Email, ab. Die Patienten erhalten in jeder Woche zwei Schreibaufgaben. In der Anleitung zur Schreibaufgabe ist jeweils genau erklärt, worum es in den Aufgaben gehen soll. Nach jeder Aufgabe bekommen die Teilnehmer eine Rückmeldung von ihrer Therapeutin. In der Mitte und am Ende der Behandlung sollen dann noch einmal einige Fragebögen ausgefüllt werden, um zu schauen, wie es den Teilnehmern geht und wie sich ihre Situation entwickelt hat.

4. Welche Themen bewegen die Teilnehmer, die ihre Schwester oder ihren Bruder verloren haben? Gibt es Themen, die besonders die Teilnehmer bewegen, die ihr Geschwister im Kindesalter verloren haben?
Die Themen, die die Teilnehmer bewegen, können ganz unterschiedlich sein. Manchmal geht es vor allem darum, sich mit den Umständen des Todes auseinanderzusetzen, bei anderen Teilnehmern steht stärker der Umgang mit dem Verlust im Vordergrund, also wie möchte man sein zukünftiges Leben gestalten und den verstorbenen Bruder oder die Schwester integrieren. Häufig gibt es Schwierigkeiten in der Familie, zum Beispiel Konflikte mit den Eltern. Verständlicherweise möchten die meisten trauernden Geschwister ihre Eltern schonen und trauen sich dann nicht, schwierige Themen anzusprechen. So kann es beispielsweise vorkommen, dass sie das Gefühl haben, in ihrer Trauer gar nicht richtig gesehen zu werden. Manchmal geht es auch um die Bearbeitung von Schuldgefühlen, beispielsweise nach Suiziden. Ich würde sagen, dass Teilnehmer, die ihr Geschwister im Kindesalter verloren haben, grundsätzlich die gleichen Themen haben wie Teilnehmer, bei denen der Verlust eingetreten ist, als sie schon erwachsen waren. Doch es können noch weitere Themen dazu kommen. Es kann zum Beispiel sein, dass erst im Erwachsenenalter bewusst wird, dass der Verlust gar nicht richtig verarbeitet wurde und dass man manche Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Tod anders bewertet als im Kindesalter. Das kann manchmal sehr schmerzhaft sein. Manchmal kommt es auch vor, dass das Umfeld nicht verstehen kann, warum das Geschwister sich nun, nach so langer Zeit noch einmal mit dem Tod des Bruders oder der Schwester beschäftigen möchte. Dann kommt die Frage auf, wann es denn „genug“ ist mit der Beschäftigung mit dem Verlust – und das kann zu Konflikten führen.

5. Wie kann das Schreiben helfen, mit diesen Themen und dem Verlust insgesamt besser umzugehen?
Die therapeutische Wirkung des Schreibens wurde schon in den achtziger Jahren festgestellt, als man Menschen, die schwierige Lebensereignisse erlebt hatten bat, darüber zu schreiben. Beruhend auf diesen Ergebnissen wurden die Internetbasierten Behandlungen in den Niederlanden an der Universität von Amsterdam entwickelt und inzwischen belegen zahlreiche Studien eine hohe Wirksamkeit der Behandlungen. Diese Verbesserung konnte auch in Langzeituntersuchungen bestätigt werden. Das Schreiben hilft dabei, Probleme und das eigene Verhalten neu zu überdenken und es wird das Gefühl entwickelt, wieder die Kontrolle über die Situation zu gewinnen. Es können neue Sichtweisen entwickelt werden und Probleme können auf eine andere Art und Weise betrachtet und gelöst werden. Durch die individuelle Rückmeldung der Therapeuten kann der Patient seine Situation und seine Probleme reflektieren und bekommt Unterstützung bei der Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten.

6. Welche Rückmeldungen bekommen Sie von den Teilnehmern?
Wir bekommen sehr viel positives Feedback von den Teilnehmern, worüber wir uns natürlich sehr freuen. Nach unserem Eindruck kann die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer von dem Programm profitieren indem sie sich noch einmal mit dem Verlust auseinandersetzen. Viele Teilnehmer fanden die einzelnen Schreibaufgaben und vor allem auch die Rückmeldungen sehr hilfreich. Die Auseinandersetzung mit den Umständen des Todes wird zunächst oft als anstrengend und belastend empfunden; im Anschluss sind die Teilnehmer aber erleichtert, dass sie das geschafft haben. Wir hoffen natürlich, dass die wissenschaftliche Auswertung der Studiendaten das subjektiv positive Bild der Teilnehmer bestätigen wird. Und wir wünschen uns, dass zukünftig vielen weiteren trauernden Geschwistern mit der Online-Schreibtherapie geholfen werden kann, ihre Trauer zu verarbeiten.

Vielen Dank für die ausführlichen Antworten.

Schreiben

Du musst loslassen, sagen sie. Aber ich kann nicht. Ich kann nicht loslassen, denn das fühlt sich wie verlieren an, und ich habe schon einmal verloren. Wenn ich jetzt loslasse, dann ist meine Schwester weg, für immer.
Du musst darüber reden können, sagen sie, und ich fange an, zu schreiben. Weil Schreiben viel einfacher geht als Sprechen. Schreiben ist meine Muttersprache.

Bevor ich mit dem Schreiben beginne, laufen Bilder in Dauerschleife in meinem Kopf. Bilder von dem Tag, an dem meine Schwester gestorben ist, Bilder von der Beerdigung und Bilder von meinem Opa, der mir vier Vogelhäuschen schenkt. Bilder vom blauen Sitzsack und Bilder von einer Therapeutin, Bilder, wie wir am Grab stehen. Bilder von einer Igel-Prinzessin. Damit ich das nicht vergesse. Weil mein Kopf hat unglaublich Angst zu vergessen. Als ich anfange, die Geschichten zu den Bildern aufzuschreiben, wird es ruhiger in meinem Kopf. Die Bilder sind an einem anderen Oft gespeichert, jetzt.
Bevor ich mit dem Schreiben beginne, ist meine Schwester schon lange kein Mensch mehr. Meine Schwester ist die Behinderte mit dem kaputten Gehirn, die nichts denken und fühlen konnte. Die nicht sehen und nicht reden und nicht laufen konnte. Die sich nicht bewegen konnte und die nichts essen wollte. Die, die überhaupt nichts konnte und die, die auch niemand vermisst, deswegen. Und ich fange an zu schreiben, und plötzlich ist sie jemand. Jemand, den ich so sehr vermisse, so sehr wie niemand sonst. Jemand, der mich beschützt und geliebt hat. Jemand, dessen Lieblingsfarbe Rot gewesen ist. Eine Igel-Prinzessin, die hier gewesen ist.
Bevor ich mit dem Schreiben beginne, wird die Geschichte von meiner Schwester nur auf eine Art und Weise erzählt. Meine Eltern erzählen in kurzen, wenigen, immer gleichen Sätzen. Wie wir geboren wurden, dass sie nichts konnte, dass sie nie essen wollte. Dass sie gestorben ist. Über meine Gedanken und Gefühle und Erlebnisse erzählt niemand, wie auch?
Und ich fange an zu schreiben, in ein Buch mit leeren Seiten, meine Geschichte. Keiner, der mir sagt, dass ich so nicht fühlen oder denken darf, Freiheit.
Bevor ich mit dem Schreiben beginne, habe ich Angst vor dem Tag, an dem ich feststelle, dass ich über alles geschrieben habe.
Bevor ich mit dem Schreiben beginne, habe ich Angst davor, was andere darüber sagen könnten.
Und dann schreibe ich nur noch, erst ganz schnell, weil alles heraus will, und später langsamer. Das Schreiben setzt unglaublich viel Energie in mir frei, ich freue mich, ich fühle mich leichter. Ich bin manchmal überrascht, wie stark ich bin, so stark.

Meine Schwester ist hier eine Igel-Prinzessin, meine Schwester und ich haben hier einen Ort. Hier sind Leute, die meine Schwester so kennenlernen wie ich, das ist wunderbar. Leute, die mit ihren Gedanken, ihren Geschichten und Fragen dazu beitragen, dass sich meine Gedanken und Gefühle ordnen und sortieren.

Endlich habe ich meine Geschichte aufgeschrieben. Ich habe keine Angst mehr, es fühlt sich gut an.
Ich glaube nicht mehr, dass ich meine Schwester loslassen muss oder dass ich über ihren Tod reden muss. Ich glaube nur, dass man irgendwas tun muss, damit man nicht platzt. Schreiben zum Beispiel.

Muss Trauer auch Erwachsen werden?

Lange Zeit dachte ich, dass Trauern etwas ist, das ich lernen und nachholen müsste. Als ich anfing, hier zu schreiben, fragte ich mich, wie ich das Trauern lernen könnte, und ich stellte es mir so ähnlich vor, wie wenn man eine neue Sprache lernt, dass es schwierig ist und man ganz viel Zeit dafür braucht.

Als ich ein Kind war, dachte ich, dass Trauer etwas für die Erwachsenen ist, und ich hoffte, dass ich das lernte, wenn ich groß war. Erwachsene weinten, wenn jemand gestorben war, und sie sagten Sätze zueinander („Jetzt muss sie nicht mehr leiden“) und umarmten sich.

Ich weinte nicht und ich redete nicht und ich umarmte auch niemanden. Ich tat einfach nur so, als wäre ich nicht mehr da, damit die Erwachsenen Ruhe hatten zum Weinen und Reden und Umarmen, und damit sie dabei nicht gestört wurden. Weil das war eine wichtige Sache.

Weil ich so tat, als wäre ich nicht da, und nicht redete und nicht weinte, blieben alle Gefühle in mir drin und ich war mit ihnen allein. Bei den Erwachsenen war das anders. Sie redeten und weinten und gaben sich die Gefühle hin und her und sie waren nicht allein damit.

Ich war traurig, dass ich darüber, dass meine Schwester tot war, nicht gut weinen konnte. Weil meine Schwester wollte bestimmt, dass ich darüber weinte. Und außerdem wäre ich dann nicht mehr so allein gewesen. Und nicht so falsch.

Als ich das Trauern lernen wollte, hatte ich mir viele Gedanken darüber gemacht, wie Erwachsene trauern, und ich wollte das genau so lernen. Ich dachte, ich muss das Trauern lernen und die Trauer um meine Schwester nachholen. Aber es funktionierte nicht. Ich konnte nicht weinen und reden funktionierte manchmal und manchmal überhaupt nicht. Und wenn ich schrieb, dann war ich fast immer ein Kind und nie Erwachsen. Manchmal fühlte ich Wut, das war richtig echte Kinderwut, und manchmal auch Traurigkeit ohne Tränen.

Ich erkannte, dass ich getrauert habe, und dass das nichts ist, was ich nachholen muss. Ich habe getrauert, wie Kinder das tun, vielleicht, oder wie ich es zu dem Zeitpunkt mit meinen Möglichkeiten tun konnte. Ich hatte geschwiegen und viel gedacht und mir meine Schwester herbei gewünscht. Ich war traurig gewesen und froh und leicht und schwer. Auch wenn ich nicht geweint und nicht geredet und niemanden umarmt hatte, habe ich getrauert. Meine Trauer ist eine Kindertrauer und nur im Vergleich zu der Trauer von vielen Erwachsenen wirkt sie seltsam, obwohl sie eigentlich stinknormal ist.

Manchmal denke ich darüber nach, ob Trauer auch Erwachsen werden muss, aber ich glaube, Trauer muss gar nichts, überhaupt nichts. Und dass man Trauern nicht lernen muss.

Bücher über den Tod

Ich las sehr gerne. Manchmal kam in den Büchern, die ich las, auch der Tod vor.
Das Buch „Brüder Löwenherz“ von Astrid Lindgren las ich sehr gerne, besonders den Anfang, immer und immer wieder. Weil die Geschichte mich an meine eigene erinnerte, und dann wieder nicht. Zwei Brüder, der eine krank, und es ist klar, dass er bald sterben muss, der andere gesund. Und dann stirbt der gesunde Bruder vorher, er rettet seinen Bruder, als das Haus brennt, und stirbt dabei. Etwas später stirbt auch der kranke Bruder, und sie sind wieder vereint.
Die ganze Geschichte von den Brüdern Löwenherz war sehr traurig, aber es war wunderschön, dass sie nicht alleine tot sein mussten.
Mir gefiel immer sehr gut, dass der gesunder Bruder sich so gut um seinen Bruder kümmert, mit ihm so lieb redet und ihm dann sogar das Leben rettet. Und es machte mich gleichzeitig wahnsinnig sauer, weil ich wollte das gleiche für meine Schwester tun, und es ging nicht mehr, weil sie war tot. Ich war überzeugt davon, dass in unserer Geschichte etwas falsch gelaufen war – denn es hatte bei uns nicht gebrannt und sie war tot und ich nicht. Ich fühlte mich schlecht, weil ich nicht vor ihr gestorben war.
Etwas später las ich, dass Astrid Lindgren auf die Idee für das Buch gekommen war, als sie auf dem Friedhof das Grab zweier Brüder gesehen hatte. Das machte mich auch wütend, denn es war ja klar, dass wenn Astrid Lindgren am Grab meiner Schwester vorbei kam, sie gar nicht auf den Gedanken kommen würde, dass es mich auch gab. Sie konnte ja dann nicht wissen, dass meine Schwester noch eine Zwillingsschwester hatte, und dass ein Fehler passiert war und kein Brand, und dass ich meine Schwester auch retten wollte, aber das nicht ging.

Ich hatte auch ein anderes Buch, in dem der Tod vorkam. Es hieß „Gänseblümchen für Christine“. Sehr faszinierend fand ich, dass das Mädchen in dem Buch eine Schwester hatte, die so ähnlich wie meine Schwester war, und genau wie meine Schwester an ihrer Behinderung starb. Ich kannte sonst keine Kinder, die so waren wie meine Schwester.
Der erste Satz des Buches lautete: „Heute Nacht ist Christinchen gestorben.“ Und ich merkte ihn mir und fand ihn sehr gut, weil er so klar und so schmerzhaft war. Ich nahm mir vor, später auch ein Buch zu schreiben, und der erste Satz würde sein: „Heute Morgen ist meine Schwester gestorben.“ Und vielleicht würde ich dann noch etwas dazu schreiben und vielleicht auch nicht.
Beim Lesen war ich manchmal sehr wütend auf das Mädchen in dem Buch, weil ich fand, sie sollte ihre Schwester lieb haben und darüber traurig sein, dass sie tot ist. Manchmal weinte ich heimlich beim Lesen. Manchmal überlegte ich lange Zeit, ob meine Schwester gestunken hatte oder nicht (die Schwester des Mädchens hat nämlich gestunken).
Ich fühlte mich überhaupt nicht so, wie das Mädchen in dem Buch, und ich hätte lieber von einem Mädchen gelesen, das so fühlte wie ich. Es machte mich traurig, dass Christine nicht so geliebt wurde, wie sie war.

Das blöde Gemisch

Lange Zeit wusste ich nicht, dass das, was in mir ist, Trauer ist. Und da war niemand, der mir das erzählte. Überhaupt gab es keine Worte für das, was in mir war. Ich wusste nur, dass da ein blödes Gemisch von blöden Gefühlen in mir war, Gefühle, die machten, dass ich Angst bekam und dass ich mich traurig und wütend fühlte und anders. Anders, weil ich die einzige auf der ganzen Welt mit diesen Gefühlen war und deshalb gab es auch keine Worte dafür.
Das blöde Gemisch saß dort, wo das Herz ist, unter der Brust, und machte den Körper schwer. Manchmal wollte es aus meinem Körper herauskommen, aber ich drängte es zurück. Ich wollte nicht anders sein und auch nicht traurig oder wütend und Angst haben wollte ich auch nicht. Ich machte den Mund ganz fest zu, damit das blöde Gemisch nicht aus meinem Körper herauskommen könnte. Das war ziemlich anstrengend, weil das blöde Gemisch war ziemlich stark und ich nicht.

Ich wollte lieber meine Schwester zurück haben, damit das blöde Gemisch weg ging. Ich wollte sowieso lieber meine Schwester zurück haben, weil sie gehörte zu mir und nirgendwo sonst hin. Und ich wartete und wartete und wartete, aber sie kam nicht wieder.
Und das blöde Gemisch blieb und gehörte ebenso zu mir, wie meine Schwester zu mir gehört hatte. Es war gut, dass wenigstens irgendwas von meiner Schwester bei mir war, und ich wollte das blöde Gemisch nicht mehr hergeben. Es blieb und ich gewöhnte mich daran, dass es da war. Es machte immer noch, dass ich Angst hatte und traurig war und anders und es tat weh, aber es war da, und es war gut, dass es da war.

Als ich erwachsen war, redete ich zum ersten Mal mit anderen Leuten über das blöde Gemisch in meinem Körper. Sie sagten, dass ich das blöde Gemisch gehen lassen sollte. Dieser Gedanke machte mir noch viel mehr Angst als das blöde Gemisch selbst. Wenn das blöde Gemisch weg wäre, dann wäre auch meine Schwester weg, ganz weit weg, noch viel weiter weg als vorher. Und außerdem wusste ich auch gar nicht, wie das gehen sollte, denn das blöde Gemisch wollte nicht gehen.
Aber ich beschloss, dass blöde Gemisch nochmal genau anzugucken. Auch das machte mir Angst, ganz viel Angst. Denn auch wenn das blöde Gemisch schon so lang in meinem Körper war, hatte ich es nie richtig angeschaut. Weil ich Angst hatte, weinen zu müssen und nie wieder damit aufhören zu können. Oder Angst davor, verrückt zu werden.

Ich fing damit an, das blöde Gemisch in seinen Einzelteilen anzugucken. Da waren Erinnerungen und Sätze, die gesagt wurden und die ich auswendig konnte, Geschichten und Dinge wie Angst und Schuldgefühle, Schmerzen und Glück, Wut und Traurigkeit und Liebe. Das war meine Trauer, irgendwo da war meine Trauer.
Da war Trauer darum, dass meine Schwester tot war, und Trauer darum, dass ich mich so unvollständig fühlte und Trauer um das Kind, dass ich gewesen war und um meine Kindheit.

Es war okay, das blöde Gemisch anzusehen und gar nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte. Ich hatte keine Angst mehr vor dem blöden Gemisch, oder vielleicht noch ein bisschen und nicht mehr so viel. Es machte mich stark, dass ich die Trauer angeguckt hatte.

Es darf bleiben, das blöde Gemisch, weil meine Schwester ist tot. Es darf sich verändern und anders mischen. Ich tausche die Angst ein gegen das Glück, denn meine Schwester war hier.

 

Mit diesem Text beteilige ich mich an der Blog-Aktion Alle reden über Trauer des Blogs In lauter Trauer.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Interviews

Ich habe Jana von der Seite Wenn Kinder sterben einige Fragen zu meiner Schwester und zu meinen Gedanken zum Tod und zur Trauer beantwortet. Das Interview könnt ihr hier lesen: Interview mit Claudia M.

Bereits vor ein paar Monaten habe ich Jana, die die Trauerplattform Wenn Kinder sterben nach dem Tod ihres Sohnes ins Leben gerufen hat, ebenfalls interviewt. Das Interview könnt ihr hier lesen: Interview mit Jana D.

Auch Frauke vom Blog Fräuleins wunderbare Welt, die selbst eine Zwillingsschwester mit Behinderung hat, habe ich einige Fragen beantwortet. Hier gehts zum Interview: Blogvorstellung: Meine Schwester tot und ich hier

Erinnerungen an eine Igel-Prinzessin

Wie wir uns an die Toten erinnern wollen, das ist eine schwierige und eine einfache Frage zugleich. Einfach deshalb, weil es ja einfach so passiert, dass ich mich an meine Schwester erinnere, wenn ich mich unvollständig fühle. Oder wenn ich Sitzsäcke sehe oder Prinzessinnen oder Igel. Einfach, weil ich ja nichts dagegen machen kann. Das ist ein Erinnern, was in mir drin stattfindet. Das ist einfach.

Das Erinnern mit mehreren Personen, das ist schwierig. Die meisten Leute erinnern sich an tote Personen, indem sie Geschichten über sie erzählen, lustige Geschichten, und sie erzählen, was derjenige gemacht hat und was er gesagt hat, und wie er geguckt hat, oder so. Oder wenn sie Dinge tun, die der Verstorbene gern getan hat, wenn sie das Lieblingslied des Verstorbenen hören, oder wenn sie einen Kuchen backen, den er gern gegessen hat. So erinnert man sich an Personen, die mal gelebt haben und viele Dinge getan haben und viele Sachen gesagt und viele Lieblingslieder gehört und die jetzt tot sind. Nur, niemand kann Geschichten über meine Schwester erzählen, wie man sie sonst über Tote erzählt, weil sie nie etwas anderes außer Herumliegen getan hat, deshalb nicht. Niemand weiß, was sie gefühlt oder gedacht hat, oder was ihr Lieblingslied war. Manche sagen auch, dass sie gar nichts gefühlt und gar nichts gedacht hat. Aber das glaube ich nicht. Deshalb ist es schwierig, sich mit mehreren Personen zu erinnern.

Fast alle Personen, die ich heute kenne und mit denen ich zu tun habe, kannten meine Schwester nicht. Die Personen, die meine Schwester nicht kannten oder gar nichts davon wissen, dass es sie mal gegeben hat, können sich natürlich auch nicht an sie erinnern.

Die Personen, die sie kennengelernt haben, haben sie mit einer anderen Sicht, auf eine andere Weise kennengelernt und erinnern sich an andere Dinge. Wenn ich mich an meine Schwester erinnere, dann denke ich an Gemütlichkeit und Sitzsack-Nester, daran, dass meine Schwester eine Prinzessin war, und sehr mutig, und auch an traurige Sachen, wie wütend ich darüber war, dass der Tod mir einfach meine Schwester wegnommen hatte und wie tief das Grab gewesen war. Andere Personen erinnern sich an Schmerz und an Krankheit und an Behinderung, und vielleicht an Dinge, die sie nicht erzählen. Manche Personen wollen nicht von meiner Schwester sprechen, vielleicht, weil das für sie eine traurige Geschichte ist, vielleicht, weil sie das Gefühl haben, dass schon alles gesagt worden ist.

Wenn ich mir wünschen könnte, wie wir alle uns an meine Schwester erinnern würden, und wenn das auch in Erfüllung gehen würde, dann würde ich gern ab und zu von meiner Schwester erzählen. Ich wünsche mir dann noch dazu, dass keiner vor Schreck in Ohnmacht fällt, oder etwas Dummes sagt oder komisch wird vor Angst. Ich möchte gar nicht so viel über meine Schwester erzählen, vielleicht nur, dass sie mal hier war und einen blauen Sitzsack hatte und so aussah wie ein Igel. Vielleicht noch, dass ich sie sehr liebe und nicht einverstanden war mit ihrem Tod und ziemlich wütend.

Ansonsten will ich einfach, dass es leise ist. Ich will im Wind stehen und nichts sagen und verstanden werden. Weil, wie soll man mit Worten das einfangen, was im Wind ist? Das geht nicht. Fühlen geht und Fühlen ist still. Die Welt ist laut und meine Schwester ist da, wo es leise ist.

 

Mit diesem Beitrag beteilige ich mich an der November-Blogaktion des Totenhemd-Blogs.

Weil du mir so fehlst – Buchvorstellung, Interview und Verlosung

Heute möchte ich euch das Buch „Weil du mir so fehlst“, geschrieben von der Trauerbegleiterin Ayse Bosse mit Ilustrationen von Andreas Klammt, vorstellen. Es ist im September 2016 im Carlsen Verlag erschienen.

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Das Buch richtet sich ab Kinder ab vier Jahren, die jemanden verloren haben. Am Anfang des Buches sieht man den Bären, wie er auf seinem Lieblingsplatz liegt. Er ist traurig und ängstlich und wütend, weil jemand gestorben ist, den er sehr lieb hatte. „Das ist gemein, dass jemand, den man lieb hat, nie wieder zurückkommt“, sagt der Bär.

Viele der Seiten des Buches kann man mit eigenen Gedanken und Bildern füllen. Es gibt Platz zum Einkleben von Fotos, Platz für Fragen und Platz, um seine Gefühle und Erinnerungen aufzuschreiben, Ideen für eine Trostsuppe oder ein Rezept für Trauerklöße.

In dem Buch erkenne ich viele der Gedanken und Fragen wieder, die ich als Kind nach dem Tod meiner Schwester hatte. Zum Beispiel sagt der Bär: „Können doch alle immer leben. Ist doch Platz genug“, oder er findet es seltsam, dass alles einfach so weitergeht, und spricht damit Gedanken aus, die bestimmt viele Kinder (und auch Erwachsene) haben. Es werden verschiedene Fragen und Themen aufgegriffen: Dass Trauer nicht nur Traurigsein bedeutet, sondern ganz viele verschiedene Gefühle; dass man trotz Trauer auch mal fröhlich sein darf; was dabei hilft, mit der Trauer zurechtzukommen; dass man Weinen kann aber nicht muss; wie es dort wohl aussieht, wo der Verstorbene nun ist. Und vor allem, dass jedes Kind trauern darf, wie es will.

Das Buch kann Erwachsenen und Kindern dabei helfen, über den Tod und die Gefühle, die damit zusammenhängen, zu sprechen. Vielleicht hilft es Erwachsenen dabei, zu verstehen, welche Gedanken und Gefühle und Ängste Kinder haben können. Und Kindern hilft es, zu sehen, dass sie nicht allein sind und dass sie ernst genommen werden. Zudem kann das Buch mit den selbstgestalteten Seiten eine wertvolle Erinnerung werden.

Was mir außerdem gefällt, ist, dass das Buch offen ist, egal, um wen man trauert. Man erfährt nicht, um wen der Bär genau trauert. Man sich in ihn hineinversetzen und an die Person denken, um die man trauert und erzählt so seine eigene Geschichte.

 

„Wenn man darüber redet, wird die Angst kleiner“ – Interview mit der Autorin und Trauerbegleiterin Ayse Bosse

1. Wie sind Sie dazu gekommen, eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin zu machen?
Vor meinem Entschluss die Ausbildung zu machen habe ich ehrenamtlich in einem Tageshospiz für Kinder geholfen. Dort werden schwer kranke Kinder morgens abgeholt und bis zum Abend betreut, um die Familien zu entlasten. Ich war damals mit meinem Job als Schauspielerin nicht so richtig glücklich. Ich hatte das Bedürfnis etwas zu tun, das sich nicht immer nur um meine Person dreht, sondern etwas Sinnvolles. Ich habe dort eine Trauerbegleiterin kennengelernt und nachdem dann im Jahre 2013 mein Vater und zwei Jungs, die ich betreut hatte, gestorben sind, war mir klar, dass ich mit all der Trauer, die mich da erwischt hatte etwas nach vorne tun muss, aktiv werden muss.

So habe ich dann die Ausbildung begonnen. Eigene Erfahrungen mit Verlust sind natürlich gut für die Arbeit als Trauerbegleiterin.

2. Wann und wie kamen Sie auf die Idee für das Buch?
Während unserer Ausbildung mussten wir uns für ein Thema für eine Abschlussarbeit entscheiden und ich habe schnell gemerkt, dass mich das Thema Kinder und Trauer sehr interessiert. Ich habe selbst eine Tochter und wir haben gemeinsam um den Opa getrauert. Ich habe bemerkt, dass ich viel von ihr lernen kann. Kinder sind so wunderbar. Wunderbar offen, wenn sie sich ernstgenommen fühlen, besonders sensibel und klar in ihren Vorstellungen zu dem Thema.

Für meine Abschlussarbeit habe ich viele Kinder zum Thema Trauer interviewt und währenddessen kam mir schon die Idee zum Buch. Ich wollte all das in Worte fassen, was ich von den Kindern gelernt hatte, damit andere Kinder sehen, dass sie nicht alleine sind und absolut nichts falsch machen beim Trauern. Die Großen trauern eben anders als die Kleinen und Kinder denken dann oft, dass sie etwas falsch machen oder Erwachsene denken Kinder trauern nicht genug oder nicht richtig. Beides ist falsch. Beim Trauern ist alles erlaubt! Mit dem Buch möchte ich dazu ermutigen, gemeinsam zu trauern, sich gegenseitig zu trösten, voneinander zu lernen und aktiv zu sein in der Trauer.

3. Ich empfinde die Sprache in dem Buch als sehr klar und absolut treffend. Es bringt vieles, was ich als Kind gedacht habe, auf den Punkt. Wie leicht ist es Ihnen gefallen, die richtigen Worte zu finden?

Wir waren doch alle mal Kinder.
Ich glaube so richtig erwachsen geworden bin ich nie.
Deshalb ist es mir sehr leicht gefallen, ausserdem hatte ich ja durch die Kinder mit denen ich zu tun hatte die besten Inspirationen. Viele Formulierungen im Buch wie: „Tod ist doof“ oder „ Wenn man drüber redet, wird die Angst kleiner“, kommen von den Kindern.

4. Welche Erfahrungen mit Tod und Trauer haben Sie selbst als Kind  gemacht?

Ich habe als Kind total viel über den Tod nachgedacht. Das ganze hat mir immer ganz schön angst gemacht, mich aber auch total fasziniert. Meine Mutter erzählte mir neulich, dass ich als 6jährige einmal ganz plötzlich angefangen habe zu weinen und gesagt habe, dass ich gerade sehr traurig darüber bin, diese Welt eines Tages verlassen zu müssen…

Ansonsten wären da: die Goldhamster, das Kaninchen, der Hund, die Katze, die Oma, eine Schulkameradin und auch der Bruder einer Freundin. Es gab eigentlich immer Anlass für mich über den Tod nachzudenken.

5. Welche Vorstellungen haben Kinder vom Tod, wie empfinden sie den Verlust?
Jeder ist anders, das kann man pauschal gar nicht sagen, wie Kinder den Tod wahrnehmen und mit Verlust umgehen. Sehr unterschiedlich würde ich sagen. Der eine ist wütend, der andere lenkt sich viel ab, der dritte braucht besonders viel Liebe und Kuscheln usw. Ausserdem ist natürlich das Alter auch ein Faktor. So richtig kapieren können Kinder das mit dem Sterben und dem endgültig-für-immer-weg-Sein wahrscheinlich erst mit sechs bis acht Jahren, das kommt immer darauf an, wie viel auch zu Hause oder in der Schule schon darüber gesprochen wurde und welche Erfahrungen schon gemacht wurden.

Wenn ein geliebter Mensch im engsten Umkreis eines Kindes stirbt, ist auf einmal alles anders und das bringt dann natürlich die ganze Welt des Kindes ins Wanken. Wenn dann auch noch nicht mit dem Kind über den Todesfall kommuniziert wird, fühlt es sich völlig allein und durcheinander. Oft denken Erwachsene, man muss Kinder vor Details schonen, die mit dem Tod zu tun haben, aber Kinder brauchen Informationen, genauso wie wir Großen, um besser zu begreifen, was da passiert ist.
Apropos Begreifen: Den Toten noch mal sehen und auch anfassen, wenn das möglich ist, hilft beim Begreifen und ist bei weitem nicht so schlimm für Kinder, wie vielleicht viele denken. Natürlich muss das Kind frei für sich entscheiden. Ich habe damals meine Tochter gefragt, ob sie Opa noch mal sehen möchte. Sie war da sieben und wollte. Wir haben dann darüber gesprochen, warum er so gelb aussieht und dass seine Hände so kalt waren. Klar klingt das erst mal krass, aber sie ist alles andere als traumatisiert durch diese Erfahrung. Ganz im Gegenteil, sie hat sich einbezogen, ernstgenommen und als ein Teil der Familie gefühlt und zusammen ist man nun mal stärker. Sie hat auch gesagt, sie hat es sich vorher viel schlimmer vorgestellt. Genau das passiert oft, dass Kinder, die so etwas nicht selbst erfahren können, dann die schlimmsten Zombie-Fantasien und Albträume bekommen.

6. Welche Fragen/ Themen/ Ängste beschäftigen Kinder, die einen lieben Menschen verloren haben? Gibt es Themen, mit denen sich besonders Kinder auseinandersetzen, die ein Geschwisterkind verloren haben?
Die unterschiedlichsten Fragen beschäftigen ein Kind nach einem Verlust. Wichtig ist, dass man ihnen signalisiert, dass man bereit ist mit ihm über diese Fragen zu sprechen. Es ist dann übrigens völlig in Ordnung sagen zu müssen : „Du, auf diese Frage kann ich dir leider keine Antwort geben“, denn es gibt nicht immer eine Antwort… „Ich stelle mir das so oder so vor“ …oder „ich weiß es leider nicht“.

Kinder können nach einem Verlust die verschiedensten Ängste entwickeln, auch Wut und Schuldgefühle. Wichtig ist, dass sie damit nicht alleine gelassen werden. Wenn man sich als Eltern, auch aufgrund der eigenen Trauer, damit überfordert fühlt, rate ich ganz unbedingt zu einer Trauerbegleitung. In Form von Einzel- oder Gruppenbegleitung. Es ist oft total gut, mal mit Leuten über alles zu reden, die nicht selbst betroffen sind.

Ich glaube, ein Geschwisterkind zu verlieren ist mit das Schlimmste, was einem Kind passieren kann. Geschwister von verstorbenen Kindern haben oft extreme Schuldgefühle, sie haben Angst davor, am Tod der Schwester oder des Bruders Schuld zu sein, sie fühlen sich schuldig, dass sie noch da sind und der andere nicht, vermissen ihre Geschwister, sehen ihre Eltern so sehr leiden und bemühen sich oft durch große Anstrengung irgendwie die Lücke zu füllen, was ihnen natürlich nicht gelingt.

7. Wie lassen sie Kinder in ihrer Trauer begleiten und unterstützen?
Es ist für trauernde Kinder essentiell wichtig zu wissen, dass beim Trauern alles erlaubt ist, dass sie dabei nichts falsch machen können, dass sie nicht schuld sind, dass sie nicht alleine sind, dass sie toll sind und geliebt werden, dass der Tod etwas ganz Normales ist und einfach dazu gehört, dass sie sich ernstgenommen fühlen, dass Erwachsene auch mal schwach sind und auch mal keine Antwort wissen, zu kuscheln, gemeinsam schöne Rituale machen für den Verstorbenen, Liebe, Liebe , Liebe.

8. Was können Erwachsene beim Umgang mit Verlust, Abschied und Trauer von Kindern lernen?
Erwachsene können vielleicht durch Kinder lernen etwas offener mit dem Thema umzugehen und es nicht totzuschweigen. Denn wenn man darüber redet, wird die Angst kleiner…auch die der Erwachsenen.

Kinder können sehr gut in halbwegs verdaubaren Portionen trauern und dann wieder ganz gut abschalten, spielen und fröhlich sein, auch das wäre gesund für Erwachsene.

Niemand, der gestorben ist, möchte das seine Liebsten immer traurig sind! Im Gegenteil.

Liebe Frau Bosse, danke für das Interview.
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Ayse Bosse hat mir ein Exemplar des Buches zur Verfügung gestellt, das ich gerne an euch verlosen möchte. Wenn ihr das Buch gewinnen möchtet, schreibt einfach bis zum 06.12.2016 einen Kommentar unter diesen Beitrag. Unter allen, die bis dahin kommentiert haben, werde ich das Buch dann verlosen. Das Buch ist übrigens nicht nur etwas für Kinder, sondern auch für Erwachsene, finde ich.

Viel Glück!

Am Grab

Manchmal gingen wir zusammen zum Grab meiner Schwester, meine Eltern, meine anderen Geschwister und ich. Ich wusste gar nicht genau, was man macht, wenn man am Grab steht, und das fragte ich mich jedesmal, wenn wir zusammen vor dem Grab standen. Wir gingen nicht so oft alle zusammen zum Grab, nur manchmal.

Also ich wusste natürlich, dass man ganz still sein muss, und nicht reden darf und schon gar nicht lachen, und dass man nicht herumhampeln soll. Man soll still sein, und still stehen, und man soll das Grab anschauen, und niemand anderes sonst soll man anschauen. Das wusste ich, weil ich die Erwachsenen dabei beobachtet hatte, heimlich, wie sie das machten. Wenn wir zusammen vor dem Grab standen, dann guckte ich manchmal ganz kurz zu meinen Eltern, weil ich wissen wollte, wie sie da standen und wie sie guckten und was sie machten, und dann guckte ich schnell wieder auf das Grab, damit niemand merkte, dass ich woanders hin geguckt hatte. Ich versuchte, so zu stehen und so zu gucken wie sie, und niemand fiel auf, dass ich gar nicht so genau wusste, was man macht, wenn man vor dem Grab steht.

Ich verstand nicht, warum ich so auf das Grab starren sollte, obwohl da gar nichts passierte. Das Grab und die Pflanzen, die darauf wuchsen, veränderten sich nicht so schnell. Besser hätte ich es gefunden, sich mit dem Rücken auf den Rasen neben das Grab zu legen. Dann könnte man Vögeln und Wolken beim Fliegen zuschauen und sehen, wie der Wind die Blätter des Baumes berührt. Außerdem ist man, wenn man sich auf die Erde legt, näher an der toten Person, als wenn man herumsteht, weil die tote Person ja in der Erde vergraben ist. Auf das Grab starren und still sein, das ist langweilig und traurig, aber das sagte ich nie.

Ich wusste auch nicht, was man denken sollte, wenn man vor dem Grab stand. Das war etwas, das man sich nicht abschauen konnte, weil man Gedanken nicht sehen kann. Die Erwachsenen redeten nicht darüber, was sie dachten. Ich fragte mich, ob sie traurig waren, weil meine Schwester tot war, und wie traurig sie waren.

Mir fiel es manchmal schwer, meine Gedanken beisammen zu halten und nur an meine Schwester zu denken, wenn wir vor dem Grab standen. Na klar, ich dachte dann daran, dass meine Schwester tot war, und dass das blöd war, aber dann dachte ich plötzlich auch an andere Dinge, an die Schule, oder an Hausaufgaben oder an Dinge, die ich machen wollte. Es war dann so, als wären die Gedanken an meine Schwester weggedacht, und ich wusste, ich soll an meine Schwester denken, aber da kamen keine Gedanken mehr dazu. Weil, das war auch klar, wenn man vor dem Grab einer Person steht, dann soll man an diese Person denken und an nichts anderes.

Meine Eltern konnten das, Stillsein und aufs Grab gucken und an meine Schwester denken. Meine anderen Geschwister konnten das auch. Ich hoffte, dass niemand sah, dass ich das nicht konnte.

Dann waren meine Eltern fertig mit Stillsein und Gucken, und wir gingen aus dem Friedhof heraus. Sie fingen wieder an zu reden, sie fragten mich nach der Schule und nach den Hausaufgaben und so was, aber ich fühlte mich, als wäre mein Herz eingefroren und alles war starr und ich konnte nur noch daran denken, dass meine Schwester tot war, und an nichts anderes mehr.

 

Nicht traurig sein

Nicht traurig sein.

Sie sagen: „Sie war doch eh behindert.“
Und: „Sie konnte doch gar nichts.“
„Weißt du, es ist sowieso komisch, dass sie so lange gelebt hat, eigentlich hätte sie viel früher sterben müssen.“
„Sie wollte nie etwas essen“, sagen sie, und: „Sie hatte kein schönes Leben.“

Und ich nicke und sage nichts. Nichts davon, dass sie eine Prinzessin war, und noch ein Kind, und Kinder sterben nicht, und dass sie vielleicht lieber Luftküsse essen wollte, statt Nudeln mit Tomatensoße, und dass sie natürlich ein prinzessinnenhaft tolles Leben hatte, mit Dienern, die ihr die besten Sitzsacknester der Welt bauten. Ich sage nichts, weil ich nicht blöd dastehen will, und nicht die einzige sein will, die was anderes sagt, und ich will nicht ausgelacht werden, weil ich was anderes denke und fühle, und ein bisschen Angst bekomme ich. Angst davor, dass das stimmt, dass sie kein schönes Leben hatte. Das ist eine blöde Angst. Ich will, dass sie wieder geht, aber sie geht nicht.

Sie sagen nie: „Das ist so ungerecht und gemein. Warum kann denn nicht jemand anders sterben?“
Oder: „Wer hat denn sowas blödes wie den Tod erfunden?“
Oder: „Wir wollen sie wiederhaben, jetzt, sofort.“
Oder: „Der blöde liebe Gott soll das wieder in Ordnung bringen, was fällt dem eigentlich ein?“
Und sie sind nicht wütend und sie stampfen auch nicht mit dem Fuß auf, und sie schreien nicht alle Schimpfwörter heraus, die sie kennen, sie hauen nicht mit dem Kopf gegen die Wand, sie sind ruhig und sagen nur: „Es ist gut so, wie es ist.“

Ich bin wütend, und ich will schreien und mit dem Fuß aufstampfen und ich will Dinge kaputtmachen und nie mehr damit aufhören. Ich will allen sagen, wie ungerecht und gemein das ist, und ich will nicht, dass meine Schwester tot ist, und dass sie beerdigt wird, ich will das nicht. Aber ich bin ruhig, weil alle ruhig sind, und ich nicke, wenn sie sagen, dass alles gut ist, wie es ist, weil ich nicht auffallen will. Ich will, dass sie mich lieb haben, wütende Mädchen finden alle doof.

Ich verstecke meine Wut ganz tief unten in meinem Körper, und die Angst und die Traurigkeit auch. Man trauert nicht um tote Schwestern, die behindert waren und nichts konnten. Nicht traurig sein.