Interviews

Ich habe Jana von der Seite Wenn Kinder sterben einige Fragen zu meiner Schwester und zu meinen Gedanken zum Tod und zur Trauer beantwortet. Das Interview könnt ihr hier lesen: Interview mit Claudia M.

Bereits vor ein paar Monaten habe ich Jana, die die Trauerplattform Wenn Kinder sterben nach dem Tod ihres Sohnes ins Leben gerufen hat, ebenfalls interviewt. Das Interview könnt ihr hier lesen: Interview mit Jana D.

Auch Frauke vom Blog Fräuleins wunderbare Welt, die selbst eine Zwillingsschwester mit Behinderung hat, habe ich einige Fragen beantwortet. Hier gehts zum Interview: Blogvorstellung: Meine Schwester tot und ich hier

Richtig gute Beerdigungen

Natürlich dachte ich oft über richtig gute Beerdigungen nach. Nur, das blöde dabei war, dass ich erst anfing, darüber nachzudenken, als meine Schwester schon tot war und unter der Erde, und nicht früher. Eigentlich sollte man vorher darüber nachdenken, fand ich. Aber weil mir niemand gesagt hatte, dass meine Schwester sterben würde und dass sie dann beerdigt werden würde, und ich auch nicht allein drauf gekommen war, dachte ich erst dann an richtig gute Beerdigungen.

Bei einer richtig guten Beerdigung kommen viele, viele Leute. Viel mehr Leute, als überhaupt in eine Kapelle hineinpassen und in eine Kirche sowieso. Die Leute kommen von überall her, und sie sind ganz traurig und weinen und hören nicht mehr auf damit. Und der Bundeskanzler kommt zur Beerdigung und andere wichtige Leute und natürlich, wenn eine Prinzessin beerdigt wird, dann kommen Prinzessinnen aus der ganzen Welt. Aus England und China und dem Takka-Tukka-Land, einfach alle Prinzessinnen, die es gibt. Und alle sind ganz traurig und sie weinen die ganze Kirche voll, so dass es eine Überschwemmung gibt. So sollte eine richtig gute Beerdigung sein.

Meine Schwester hatte leider keine richtig gute Beerdigung. Es waren viel zu wenig Leute da gewesen, das wusste ich, auch wenn ich mich nicht mehr an alles erinnerte. Jedenfalls hatten alle Leute in die Kapelle hineingepasst. Und sowieso fand ich, dass eine richtig gute Beerdigung in einer großen Kirche mit bunten Fenstern stattfinden sollte, und nicht in einer Kapelle, die einfach nur aussah wie ein Kasten und überhaupt nicht schön. Ich war traurig, dass meine Schwester keine gute Beerdigung hatte, denn ich konnte mir gut vorstellen, dass ihr eine richtig gute Beerdigung sehr gut gefallen hätte. Und wenn man ehrlich war, eigentlich hätte sie als Prinzessin eine richtig gute Beerdigung verdient, ohne Frage.

Aber es waren nicht viele Leute da gewesen, und die Leute, die da waren, hatten nur ein bisschen geweint, und nicht so viel. Der Bundeskanzler war nicht da und auch keine anderen Prinzessinnen. Vielleicht waren nicht so viele Leute da gewesen, weil nicht jeder wusste, dass meine Schwester eine Prinzessin war, und sie hatte nicht so viele Freunde und ich auch nicht und unsere Eltern auch nicht, nur ein paar. Ich fand, wenn man schon tot war sollte man wenigstens eine richtig gute Beerdigung haben, und natürlich muss dann der Bundeskanzler kommen, das ist ja wohl das mindeste.

Weil du mir so fehlst – Buchvorstellung, Interview und Verlosung

Heute möchte ich euch das Buch „Weil du mir so fehlst“, geschrieben von der Trauerbegleiterin Ayse Bosse mit Ilustrationen von Andreas Klammt, vorstellen. Es ist im September 2016 im Carlsen Verlag erschienen.

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Das Buch richtet sich ab Kinder ab vier Jahren, die jemanden verloren haben. Am Anfang des Buches sieht man den Bären, wie er auf seinem Lieblingsplatz liegt. Er ist traurig und ängstlich und wütend, weil jemand gestorben ist, den er sehr lieb hatte. „Das ist gemein, dass jemand, den man lieb hat, nie wieder zurückkommt“, sagt der Bär.

Viele der Seiten des Buches kann man mit eigenen Gedanken und Bildern füllen. Es gibt Platz zum Einkleben von Fotos, Platz für Fragen und Platz, um seine Gefühle und Erinnerungen aufzuschreiben, Ideen für eine Trostsuppe oder ein Rezept für Trauerklöße.

In dem Buch erkenne ich viele der Gedanken und Fragen wieder, die ich als Kind nach dem Tod meiner Schwester hatte. Zum Beispiel sagt der Bär: „Können doch alle immer leben. Ist doch Platz genug“, oder er findet es seltsam, dass alles einfach so weitergeht, und spricht damit Gedanken aus, die bestimmt viele Kinder (und auch Erwachsene) haben. Es werden verschiedene Fragen und Themen aufgegriffen: Dass Trauer nicht nur Traurigsein bedeutet, sondern ganz viele verschiedene Gefühle; dass man trotz Trauer auch mal fröhlich sein darf; was dabei hilft, mit der Trauer zurechtzukommen; dass man Weinen kann aber nicht muss; wie es dort wohl aussieht, wo der Verstorbene nun ist. Und vor allem, dass jedes Kind trauern darf, wie es will.

Das Buch kann Erwachsenen und Kindern dabei helfen, über den Tod und die Gefühle, die damit zusammenhängen, zu sprechen. Vielleicht hilft es Erwachsenen dabei, zu verstehen, welche Gedanken und Gefühle und Ängste Kinder haben können. Und Kindern hilft es, zu sehen, dass sie nicht allein sind und dass sie ernst genommen werden. Zudem kann das Buch mit den selbstgestalteten Seiten eine wertvolle Erinnerung werden.

Was mir außerdem gefällt, ist, dass das Buch offen ist, egal, um wen man trauert. Man erfährt nicht, um wen der Bär genau trauert. Man sich in ihn hineinversetzen und an die Person denken, um die man trauert und erzählt so seine eigene Geschichte.

 

„Wenn man darüber redet, wird die Angst kleiner“ – Interview mit der Autorin und Trauerbegleiterin Ayse Bosse

1. Wie sind Sie dazu gekommen, eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin zu machen?
Vor meinem Entschluss die Ausbildung zu machen habe ich ehrenamtlich in einem Tageshospiz für Kinder geholfen. Dort werden schwer kranke Kinder morgens abgeholt und bis zum Abend betreut, um die Familien zu entlasten. Ich war damals mit meinem Job als Schauspielerin nicht so richtig glücklich. Ich hatte das Bedürfnis etwas zu tun, das sich nicht immer nur um meine Person dreht, sondern etwas Sinnvolles. Ich habe dort eine Trauerbegleiterin kennengelernt und nachdem dann im Jahre 2013 mein Vater und zwei Jungs, die ich betreut hatte, gestorben sind, war mir klar, dass ich mit all der Trauer, die mich da erwischt hatte etwas nach vorne tun muss, aktiv werden muss.

So habe ich dann die Ausbildung begonnen. Eigene Erfahrungen mit Verlust sind natürlich gut für die Arbeit als Trauerbegleiterin.

2. Wann und wie kamen Sie auf die Idee für das Buch?
Während unserer Ausbildung mussten wir uns für ein Thema für eine Abschlussarbeit entscheiden und ich habe schnell gemerkt, dass mich das Thema Kinder und Trauer sehr interessiert. Ich habe selbst eine Tochter und wir haben gemeinsam um den Opa getrauert. Ich habe bemerkt, dass ich viel von ihr lernen kann. Kinder sind so wunderbar. Wunderbar offen, wenn sie sich ernstgenommen fühlen, besonders sensibel und klar in ihren Vorstellungen zu dem Thema.

Für meine Abschlussarbeit habe ich viele Kinder zum Thema Trauer interviewt und währenddessen kam mir schon die Idee zum Buch. Ich wollte all das in Worte fassen, was ich von den Kindern gelernt hatte, damit andere Kinder sehen, dass sie nicht alleine sind und absolut nichts falsch machen beim Trauern. Die Großen trauern eben anders als die Kleinen und Kinder denken dann oft, dass sie etwas falsch machen oder Erwachsene denken Kinder trauern nicht genug oder nicht richtig. Beides ist falsch. Beim Trauern ist alles erlaubt! Mit dem Buch möchte ich dazu ermutigen, gemeinsam zu trauern, sich gegenseitig zu trösten, voneinander zu lernen und aktiv zu sein in der Trauer.

3. Ich empfinde die Sprache in dem Buch als sehr klar und absolut treffend. Es bringt vieles, was ich als Kind gedacht habe, auf den Punkt. Wie leicht ist es Ihnen gefallen, die richtigen Worte zu finden?

Wir waren doch alle mal Kinder.
Ich glaube so richtig erwachsen geworden bin ich nie.
Deshalb ist es mir sehr leicht gefallen, ausserdem hatte ich ja durch die Kinder mit denen ich zu tun hatte die besten Inspirationen. Viele Formulierungen im Buch wie: „Tod ist doof“ oder „ Wenn man drüber redet, wird die Angst kleiner“, kommen von den Kindern.

4. Welche Erfahrungen mit Tod und Trauer haben Sie selbst als Kind  gemacht?

Ich habe als Kind total viel über den Tod nachgedacht. Das ganze hat mir immer ganz schön angst gemacht, mich aber auch total fasziniert. Meine Mutter erzählte mir neulich, dass ich als 6jährige einmal ganz plötzlich angefangen habe zu weinen und gesagt habe, dass ich gerade sehr traurig darüber bin, diese Welt eines Tages verlassen zu müssen…

Ansonsten wären da: die Goldhamster, das Kaninchen, der Hund, die Katze, die Oma, eine Schulkameradin und auch der Bruder einer Freundin. Es gab eigentlich immer Anlass für mich über den Tod nachzudenken.

5. Welche Vorstellungen haben Kinder vom Tod, wie empfinden sie den Verlust?
Jeder ist anders, das kann man pauschal gar nicht sagen, wie Kinder den Tod wahrnehmen und mit Verlust umgehen. Sehr unterschiedlich würde ich sagen. Der eine ist wütend, der andere lenkt sich viel ab, der dritte braucht besonders viel Liebe und Kuscheln usw. Ausserdem ist natürlich das Alter auch ein Faktor. So richtig kapieren können Kinder das mit dem Sterben und dem endgültig-für-immer-weg-Sein wahrscheinlich erst mit sechs bis acht Jahren, das kommt immer darauf an, wie viel auch zu Hause oder in der Schule schon darüber gesprochen wurde und welche Erfahrungen schon gemacht wurden.

Wenn ein geliebter Mensch im engsten Umkreis eines Kindes stirbt, ist auf einmal alles anders und das bringt dann natürlich die ganze Welt des Kindes ins Wanken. Wenn dann auch noch nicht mit dem Kind über den Todesfall kommuniziert wird, fühlt es sich völlig allein und durcheinander. Oft denken Erwachsene, man muss Kinder vor Details schonen, die mit dem Tod zu tun haben, aber Kinder brauchen Informationen, genauso wie wir Großen, um besser zu begreifen, was da passiert ist.
Apropos Begreifen: Den Toten noch mal sehen und auch anfassen, wenn das möglich ist, hilft beim Begreifen und ist bei weitem nicht so schlimm für Kinder, wie vielleicht viele denken. Natürlich muss das Kind frei für sich entscheiden. Ich habe damals meine Tochter gefragt, ob sie Opa noch mal sehen möchte. Sie war da sieben und wollte. Wir haben dann darüber gesprochen, warum er so gelb aussieht und dass seine Hände so kalt waren. Klar klingt das erst mal krass, aber sie ist alles andere als traumatisiert durch diese Erfahrung. Ganz im Gegenteil, sie hat sich einbezogen, ernstgenommen und als ein Teil der Familie gefühlt und zusammen ist man nun mal stärker. Sie hat auch gesagt, sie hat es sich vorher viel schlimmer vorgestellt. Genau das passiert oft, dass Kinder, die so etwas nicht selbst erfahren können, dann die schlimmsten Zombie-Fantasien und Albträume bekommen.

6. Welche Fragen/ Themen/ Ängste beschäftigen Kinder, die einen lieben Menschen verloren haben? Gibt es Themen, mit denen sich besonders Kinder auseinandersetzen, die ein Geschwisterkind verloren haben?
Die unterschiedlichsten Fragen beschäftigen ein Kind nach einem Verlust. Wichtig ist, dass man ihnen signalisiert, dass man bereit ist mit ihm über diese Fragen zu sprechen. Es ist dann übrigens völlig in Ordnung sagen zu müssen : „Du, auf diese Frage kann ich dir leider keine Antwort geben“, denn es gibt nicht immer eine Antwort… „Ich stelle mir das so oder so vor“ …oder „ich weiß es leider nicht“.

Kinder können nach einem Verlust die verschiedensten Ängste entwickeln, auch Wut und Schuldgefühle. Wichtig ist, dass sie damit nicht alleine gelassen werden. Wenn man sich als Eltern, auch aufgrund der eigenen Trauer, damit überfordert fühlt, rate ich ganz unbedingt zu einer Trauerbegleitung. In Form von Einzel- oder Gruppenbegleitung. Es ist oft total gut, mal mit Leuten über alles zu reden, die nicht selbst betroffen sind.

Ich glaube, ein Geschwisterkind zu verlieren ist mit das Schlimmste, was einem Kind passieren kann. Geschwister von verstorbenen Kindern haben oft extreme Schuldgefühle, sie haben Angst davor, am Tod der Schwester oder des Bruders Schuld zu sein, sie fühlen sich schuldig, dass sie noch da sind und der andere nicht, vermissen ihre Geschwister, sehen ihre Eltern so sehr leiden und bemühen sich oft durch große Anstrengung irgendwie die Lücke zu füllen, was ihnen natürlich nicht gelingt.

7. Wie lassen sie Kinder in ihrer Trauer begleiten und unterstützen?
Es ist für trauernde Kinder essentiell wichtig zu wissen, dass beim Trauern alles erlaubt ist, dass sie dabei nichts falsch machen können, dass sie nicht schuld sind, dass sie nicht alleine sind, dass sie toll sind und geliebt werden, dass der Tod etwas ganz Normales ist und einfach dazu gehört, dass sie sich ernstgenommen fühlen, dass Erwachsene auch mal schwach sind und auch mal keine Antwort wissen, zu kuscheln, gemeinsam schöne Rituale machen für den Verstorbenen, Liebe, Liebe , Liebe.

8. Was können Erwachsene beim Umgang mit Verlust, Abschied und Trauer von Kindern lernen?
Erwachsene können vielleicht durch Kinder lernen etwas offener mit dem Thema umzugehen und es nicht totzuschweigen. Denn wenn man darüber redet, wird die Angst kleiner…auch die der Erwachsenen.

Kinder können sehr gut in halbwegs verdaubaren Portionen trauern und dann wieder ganz gut abschalten, spielen und fröhlich sein, auch das wäre gesund für Erwachsene.

Niemand, der gestorben ist, möchte das seine Liebsten immer traurig sind! Im Gegenteil.

Liebe Frau Bosse, danke für das Interview.
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Ayse Bosse hat mir ein Exemplar des Buches zur Verfügung gestellt, das ich gerne an euch verlosen möchte. Wenn ihr das Buch gewinnen möchtet, schreibt einfach bis zum 06.12.2016 einen Kommentar unter diesen Beitrag. Unter allen, die bis dahin kommentiert haben, werde ich das Buch dann verlosen. Das Buch ist übrigens nicht nur etwas für Kinder, sondern auch für Erwachsene, finde ich.

Viel Glück!

Nicht traurig sein

Nicht traurig sein.

Sie sagen: „Sie war doch eh behindert.“
Und: „Sie konnte doch gar nichts.“
„Weißt du, es ist sowieso komisch, dass sie so lange gelebt hat, eigentlich hätte sie viel früher sterben müssen.“
„Sie wollte nie etwas essen“, sagen sie, und: „Sie hatte kein schönes Leben.“

Und ich nicke und sage nichts. Nichts davon, dass sie eine Prinzessin war, und noch ein Kind, und Kinder sterben nicht, und dass sie vielleicht lieber Luftküsse essen wollte, statt Nudeln mit Tomatensoße, und dass sie natürlich ein prinzessinnenhaft tolles Leben hatte, mit Dienern, die ihr die besten Sitzsacknester der Welt bauten. Ich sage nichts, weil ich nicht blöd dastehen will, und nicht die einzige sein will, die was anderes sagt, und ich will nicht ausgelacht werden, weil ich was anderes denke und fühle, und ein bisschen Angst bekomme ich. Angst davor, dass das stimmt, dass sie kein schönes Leben hatte. Das ist eine blöde Angst. Ich will, dass sie wieder geht, aber sie geht nicht.

Sie sagen nie: „Das ist so ungerecht und gemein. Warum kann denn nicht jemand anders sterben?“
Oder: „Wer hat denn sowas blödes wie den Tod erfunden?“
Oder: „Wir wollen sie wiederhaben, jetzt, sofort.“
Oder: „Der blöde liebe Gott soll das wieder in Ordnung bringen, was fällt dem eigentlich ein?“
Und sie sind nicht wütend und sie stampfen auch nicht mit dem Fuß auf, und sie schreien nicht alle Schimpfwörter heraus, die sie kennen, sie hauen nicht mit dem Kopf gegen die Wand, sie sind ruhig und sagen nur: „Es ist gut so, wie es ist.“

Ich bin wütend, und ich will schreien und mit dem Fuß aufstampfen und ich will Dinge kaputtmachen und nie mehr damit aufhören. Ich will allen sagen, wie ungerecht und gemein das ist, und ich will nicht, dass meine Schwester tot ist, und dass sie beerdigt wird, ich will das nicht. Aber ich bin ruhig, weil alle ruhig sind, und ich nicke, wenn sie sagen, dass alles gut ist, wie es ist, weil ich nicht auffallen will. Ich will, dass sie mich lieb haben, wütende Mädchen finden alle doof.

Ich verstecke meine Wut ganz tief unten in meinem Körper, und die Angst und die Traurigkeit auch. Man trauert nicht um tote Schwestern, die behindert waren und nichts konnten. Nicht traurig sein.

 

 

 

 

Wo bist du, wenn ich so leicht bin?

Wenn man eine tote Schwester unter der Erde hat, macht das einen schwer. So schwer, dass alles anstrengend ist, und man sich gar nicht mehr richtig bewegen kann, und auch nicht mehr so gut lachen. Man kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass man rennen kann oder dass man mal zwei Purzelbäume hintereinander gemacht hat.

So schwer zu sein, ist blöd.

Das ist die Traurigkeit, die einen so schwer macht, wenn man eine tote Schwester unter der Erde hat. Und vielleicht die Angst, vielleicht macht die Angst einen auch schwer. Jedenfalls, die Traurigkeit und die Angst sind schwerer als ein voller Wasserkasten. Vielleicht auch schwerer als zwei.
Es ist blöd, so schwer zu sein. Vor allem, weil alle um einen herum so leicht sind, und rennen und lachen und zwei Purzelbäume hintereinander machen. Aber, obwohl es blöd ist, so schwer zu sein, es ist gut und richtig, denn es muss blöd sein, wenn man eine tote Schwester unter der Erde hat. Es muss blöd sein, alles. Wenn man eine tote Schwester unter der Erde hat, dann muss alles blöd sein.
Irgendwann, dann will man einfach wieder leichter werden, weil es ist blöd, so schwer zu sein. Man freut sich darauf, zu rennen und auf die Purzelbäume. Aber leicht zu sein, das ist irgendwie auch blöd, und auch ungewohnt, weil man das ja gar nicht mehr richtig kennt, und auch gar nicht mehr richtig weiß, wie man zwei Purzelbäume hintereinander macht.

Es ist blöd, leicht zu sein, und schwierig. Man merkt, wie schön es ist, sich schwer zu fühlen, und wie vertraut und wie einfach. Schwer zu sein, das ist schön, weil wenn man so schwer ist, und die Augen zu macht, dann ist eine tote Schwester unter der Erde nicht mehr ganz so tot und nicht mehr ganz so tief unter der Erde und nicht mehr ganz so weit weg. Schwer zu sein, bedeutet, Nähe zu spüren und Verbundenheit.

Sich leicht zu fühlen, bedeutet, weiter weg zu sein, und verlorener. Sich leicht zu fühlen, macht Angst. Die Angst ist so schwer wie ein voller Wasserkasten, mindestens.

Wo bist du, wenn ich so leicht bin? Wenn du nur bei mir bist, wenn ich schwer bin, dann will ich lieber schwer sein. Und nie wieder zwei Purzelbäume hintereinander machen.

Ich will dich auch in der Leichtigkeit finden.

So, als würde man gegen sich selbst kämpfen, so schwierig ist das

Manchmal wollte ich lieber zwei Personen gleichzeitig sein. Ich wollte ich selbst sein, klar, und ich wollte auch meine Schwester sein, damit sie nicht so tot sein musste, und weil das so traurig war und so gemein. Und damit niemand meine Schwester vergessen konnte. Ich dachte viel darüber nach, und ich fand, mein Körper war groß genug für uns beide, und sie konnte ruhig ein Bein und einen Fuß und einen Arm und eine Hand und meinen halben Kopf abhaben von mir.
Es war trotzdem schwierig, zwei Personen gleichzeitig zu sein. Wenn ich redete, dann dachte ich daran, dass sie nicht reden konnte, und wenn ich rannte, dann dachte ich daran, dass sie nicht rennen konnte, und wenn ich spielte und Fahrrad fuhr, dann dachte ich auch daran, dass sie das nicht konnte, und so weiter. Und wenn mich jemand rief, dann rief er mich bei meinem Namen und nicht bei dem Namen meiner Schwester, und das war falsch, und machte mich traurig, aber andererseits war das auch trotzdem richtig, und das machte mich manchmal ganz schwindelig im Kopf.

Wenn man zwei Personen sein will, obwohl man eigentlich nur eine Person ist, das ist nämlich eine richtig komplizierte Sache. Das ist sehr schwer, so als würde man gegen sich Memory spielen oder Mensch-Ärgere-Dich-Nicht oder so, und als würde jeder dabei gewinnen wollen. Oder als würde man gegen sich selbst kämpfen. So ist das, so schwierig.
Auch wenn ich so gerne wollte, dass meine Schwester gewinnen würde und ich so werden wollte wie sie, weil ich so traurig fand, dass sie tot sein musste, gewann meistens ich. Weil es so schwierig für mich war, so zu sein wie sie, weil ich so gerne rannte und spielte. Weil ich so gerne gewann und so gerne ich war, heimlich. Ich schämte mich, dass ich so eine schlechte Schwester war.

Memory und Wackelturm

Als ich in der dritten Klasse war, ging ich jeden Dienstag Nachmittag zu einer Therapeutin, weil ich lernen sollte, wie man spielt und wie man redet und wie man Freunde findet. Und ich lernte, mit dem Bus allein zur Therapie zu fahren, weil das die Erwachsenen so wollten. Das Schwierige daran war nur, dass ich mit dem Busfahrer reden musste, um eine Fahrkarte zu bekommen, und ich redete nicht gerne, und die vielen anderen Leute, und ich hatte Angst vor anderen Leuten. Aber ich lernte sehr gut, allein mit dem Bus zu fahren.

Die Therapeutin hatte immer ein Tintenfass auf dem Tisch stehen, und einen Füller, mit dem sie manchmal Dinge aufschrieb. Sie wollte mit mir Fußball spielen, und mit Figuren im Puppenhaus und dass ich malte, aber das wollte ich nicht. Ich spielte nur zwei verschiedene Spiele bei der Therapeutin. Memory, dabei gewann ich immer, und ein Spiel, das Wackelturm hieß oder so, und dabei verlor ich immer. Das fand ich gerecht, dass jeder von uns mal verlor und mal gewann, da musste niemand von uns traurig sein. Ich spielte nichts anderes mit ihr, denn ich war mir sehr sicher, dass sie nur mit mir spielen wollte, um Dinge aus meinem Inneren zu erfahren, die sie dann mit ihrem Füller aufschreiben und meinen Eltern erzählen konnte. Ich wollte nicht, dass sie Dinge über mich wusste. Ich ging ganz gerne zur Therapeutin, weil ich spielte sehr gerne Memory.

Nachdem ich etwa ein Jahr lang jeden Dienstag Nachmittag Memory und Wackelturm mit der Therapeutin gespielt hatte, brachte ich einmal Fotos von meiner Schwester mit zur Therapie. Ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu kam, vielleicht hatte sie mich gefragt. Ich war sehr stolz und freute mich sehr, dass jemand Fotos von meiner Schwester anschauen wollte, denn sonst wollte niemand Fotos von meiner Schwester anschauen.

Ich reichte der Therapeutin die Mappe mit den Fotos, und meine Hände zitterten, und sie rückte ihre Brille zurecht. Sie machte es nicht richtig mit den Fotos. Sie sah sich die Fotos an, und sagte sowas wie, dass ich früher dickere Wangen gehabt hätte, oder wer wem am Ähnlichsten sah. Sie sagte die falschen Dinge. Sie sollte sowas sagen wie: „So eine schöne Prinzessin, das darf doch nicht sein, dass sie tot ist.“ Und sie sollte richtig sauer und traurig darüber sein, dass meine Schwester tot war, und dann sollte sie sie wieder lebendig machen. So sollte sie das machen. Ich guckte meine Schwester auf den Fotos an, und sie guckte zurück, und ich schluckte und zitterte, und die Therapeutin redete immer noch falsche Dinge, und ich weinte, obwohl ich eigentlich gar nicht weinen wollte. Ich weinte und weinte und weinte. Es war das erste Mal, dass ich weinte, weil meine Schwester tot war.

Irgendwann hörte ich auf zu Weinen, und die Therapeutin rief bei mir zu Hause an, und fragte, ob mich jemand abholen könnte, damit ich nicht mit dem Bus fahren müsste. Mein Vater wollte mich nicht abholen, ich hörte, wie er sagte, dass ich mit dem Bus fahren sollte, weil das könnte ich ja jetzt, und die Therapeutin versuchte, ihn zu überreden, mich abzuholen. Ich schämte mich, weil ich meinen Eltern Probleme machte.

Ich weiß nicht mehr, ob mich schließlich doch jemand abholte oder ob ich mit dem Bus heim fuhr. Danach ging ich nicht wieder zur Therapeutin. Ich wollte nicht mehr dorthin, weil ich wusste, dass sie Dinge aus meinem Inneren gesehen hatte, die eigentlich geheim waren. Weinen war blöd, ich war blöd, weil ich geweint hatte. Ich beschloss, nie wieder zu weinen.

 

 

 

 

Wie eine Außerirdische oder ein Stein oder so

Bevor meine Schwester starb, war ich ein Kind, wie die anderen Kinder auch. Natürlich, jedes Kind sieht etwas anders aus und kann etwas anderes gut, manche Kinder können sehr schnell rennen oder reden sehr viel oder können toll malen oder erfinden lustige Dinge, aber trotzdem, ich fühlte mich, als wäre ich ein Kind, wie die anderen Kinder, die ich kannte. So wie meine Prinzessinnen-Schwester und meine anderen Geschwister und wie die Kinder aus dem Kindergarten.

Der Tod machte, dass ich mich anders fühlte, und dass, ohne dass ich das wollte. Ich war plötzlich anders als die Kinder aus dem Kindergarten, weil meine Schwester war tot und unter der Erde vergraben, und niemand sonst hatte eine Schwester, die tot war. Eine Schwester zu haben, die eine Prinzessin ist, und im Sitzsack liegt und zuhört, wenn man ihr Geschichten erzählt, das ist ziemlich gut, aber eine Schwester zu haben, die einfach nur tot ist und nicht mehr da, das ist blöd und tut weh. Der Tod, und weil ich so traurig darüber war, machte, dass ich manchmal trauriger war als andere Kinder, und manchmal stiller und leiser, und manchmal war ich wütend. Ich war auch wütend darüber, dass der Tod mich anders machte, sehr wütend.
Der Tod machte auch, dass ich anders fühlte als meine Prinzessinnen-Schwester. Weil sie tot war und ich lebte. Als sie noch lebte, waren wir gleich gewesen, weil unsere Lieblingsfarbe dieselbe gewesen war, und weil wir dieselben Dinge fühlten. Klar, sie war eine Prinzessin gewesen und ich nicht, und ich war größer als sie und ich hatte lange Haare und sie kurze, aber das war uns egal. Nur, dass sie tot war und ich lebte, das war mir überhaupt nicht egal, und dass ich plötzlich anders war als sie, das war mir auch nicht egal. Anders zu sein als meine Prinzessinnen-Schwester, das fühlte sich ganz schlimm an, und das wollte ich nicht. Manchmal wollte ich auch tot sein, damit ich wieder so sein könnte wie sie.
Der Tod machte auch, dass ich mich anders fühlte als meine anderen Geschwister, weil sie waren nicht so traurig wie ich und nicht so hälftenhaft und manchmal verstanden sie gar nicht, warum ich so anders war.

Ich war sehr traurig darüber, dass ich nicht mehr so war, wie andere Kinder. Manchmal fühlte ich mich gar nicht mehr richtig wie ein Kind, sondern vielleicht so, wie eine Außerirdische oder wie ein Stein oder so. Aber manchmal dachte ich auch, dass es gar nicht so schlimm war, eine Außerirdische zu sein oder ein Stein oder so. Das Schlimme daran war nur, dass es niemand gab, der mich verstand, denn wer versteht schon Außerirdische oder Steine oder so.

Ich hatte mir das alles anders vorgestellt

Als ich in die Schule kam, war ich allein.

Also natürlich nicht ganz allein, weil da waren ja andere Kinder, und manche von ihnen kannte ich schon aus dem Kindergarten, und Lehrerinnen, aber trotzdem, trotzdem fühlte ich mich allein. Ich fühlte mich allein, weil meine Schwester nicht bei mir war, sondern tot. Dabei hatte ich mir schon vorgestellt, wie es sein würde, wenn wir zusammen in die Schule gehen würden. Ich wusste von meiner großen Schwester schon viel über die Schule, und ich war mir sicher gewesen, dass es meiner Schwester dort sehr gut gefallen hätte, und jetzt war sie tot, und wenn man tot ist, kann man nicht mehr in die Schule gehen.

Ich hatte mir schon vorgestellt, wie meine Schwester und ich mit dem Bus in die Schule fahren würden. Da wir manchmal mit dem Bus fuhren, wusste ich, dass jeder Bus einen Platz in der Mitte hatte, wo ein Rollstuhl oder ein Kinderwagen stehen konnte. Das hatte ich mir schon genau angeguckt, ich wusste, wie der Rollstuhl hingestellt werden musste, klar, darüber musste ich ja Bescheid wissen, schließlich konnte das meine Schwester nicht allein. Ich stellte mir vor, wie meine Schwester im Rollstuhl auf dem Rollstuhlplatz im Bus fuhr, und dass ich auf dem Platz daneben sitzen würde. Auf dem Platz, zu dem man eine Stufe hinaufsteigen muss, und man hat eine Stange vor sich, und wenn man unter der Stange hindurch klettert, dann ist man direkt beim Rollstuhlplatz. Ich fand, von diesem Platz aus hatte man die beste Sicht und darum war das mein Lieblingsplatz im Bus. Ich stellte mir also vor, wie meine Schwester und ich im Bus saßen und zur Schule fuhren, und ich auf meinem Lieblingsplatz und sie auf dem Rollstuhlplatz, und erzählte ihr irgendwas, vielleicht eine lustige Geschichte.

Ich hatte mir schon vorgestellt, wie meine Schwester in der Schule neben mir sitzen würde, in ihrem Rollstuhl, und wie alle Kinder sie streicheln würden und wie neidisch die anderen Kinder sein würden, weil ich so eine Schwester hatte und sie nicht. Ich stellte mir vor, dass meine Schwester in der Schule einen Sitzsack haben würde, damit sie darin gemütlich liegen konnte, und ich stellte mir vor, wie die anderen Kinder mich fragten, ob sie ihr Nester bauen dürften. Und ich würde sagen: „Ja, wenn du ein gemütliches Nest für sie baust, dann darfst du es.“ Und ich würde ihnen zeigen, wie man die gemütlichsten Nester der Welt baut.

Ich hatte mir schon vorgestellt, dass alle Kinder gerne mit uns spielen würden und alle Kinder mich mögen würden, und nett und freundlich zu mir sein würden. Schließlich war meine Schwester eine Prinzessin, und jeder mag Prinzessinnen sehr gern, und weil meine Prinzessinnen-Schwester mich am allerliebsten hatte, mussten die anderen Kinder mich auch mögen, so einfach war das.

So hatte ich mir das vorgestellt. Aber als ich dann in die Schule kam, war alles anders, als ich es mir vorgestellt hatte, anders, als ich es überlegt hatte, anders, als ich es geplant hatte.

Auf dem Rollstuhlplatz im Bus stand kein Rollstuhl und neben mir im Unterricht saßen andere Kinder und ich brachte niemanden bei, wie man die besten Nester der Welt baut. Ich redete und spielte nicht viel mit den anderen Kindern, weil ich wollte nicht, dass meine Schwester traurig war, weil sie tot sein musste und nicht in die Schule gehen konnte, und nicht reden und spielen konnte. Nicht alle Kinder waren nett und freundlich zu mir, vielleicht wussten sie nicht einmal, dass meine Schwester eine Prinzessin gewesen war, oder sie hatte es schon vergessen. Überhaupt, ich hatte Angst, dass niemand mich beschützen würde. Meine Schwester hatte mich immer so gut beschützt, aber jetzt war ich allein, und darum hatte ich Angst. Manchmal hatte ich so viel Angst, dass ich gar nicht antworten konnte, wenn mich jemand etwas fragte oder soviel, dass ich in die Hose machte, weil ich mich nicht traute, zu fragen, ob ich auf die Toilette gehen könnte.

Ich hatte mir das alles anders vorgestellt.

Ich fühle mich laut

Ich war auf einem Geschwister-Trauer-Seminar.

Ich habe Wörter zum Sprechen gesucht und geschwiegen.
Ich habe neue Gedanken gedacht.
Ich bin mutig gewesen mit Angst.
Ich bin auf einen Berg gestiegen.
Ich war zusammen und allein.
Ich habe gemalt.
Ich habe im Schatten eines Kirschbaums gelegen.
Ich habe geweint und gelacht.
Ich habe gespürt, wie tief die Verletzung ist.
Ich habe aus dem Fenster geschaut.

Ich fühle mich laut, so, als müsste ich rennen.