Schreiben

Du musst loslassen, sagen sie. Aber ich kann nicht. Ich kann nicht loslassen, denn das fühlt sich wie verlieren an, und ich habe schon einmal verloren. Wenn ich jetzt loslasse, dann ist meine Schwester weg, für immer.
Du musst darüber reden können, sagen sie, und ich fange an, zu schreiben. Weil Schreiben viel einfacher geht als Sprechen. Schreiben ist meine Muttersprache.

Bevor ich mit dem Schreiben beginne, laufen Bilder in Dauerschleife in meinem Kopf. Bilder von dem Tag, an dem meine Schwester gestorben ist, Bilder von der Beerdigung und Bilder von meinem Opa, der mir vier Vogelhäuschen schenkt. Bilder vom blauen Sitzsack und Bilder von einer Therapeutin, Bilder, wie wir am Grab stehen. Bilder von einer Igel-Prinzessin. Damit ich das nicht vergesse. Weil mein Kopf hat unglaublich Angst zu vergessen. Als ich anfange, die Geschichten zu den Bildern aufzuschreiben, wird es ruhiger in meinem Kopf. Die Bilder sind an einem anderen Oft gespeichert, jetzt.
Bevor ich mit dem Schreiben beginne, ist meine Schwester schon lange kein Mensch mehr. Meine Schwester ist die Behinderte mit dem kaputten Gehirn, die nichts denken und fühlen konnte. Die nicht sehen und nicht reden und nicht laufen konnte. Die sich nicht bewegen konnte und die nichts essen wollte. Die, die überhaupt nichts konnte und die, die auch niemand vermisst, deswegen. Und ich fange an zu schreiben, und plötzlich ist sie jemand. Jemand, den ich so sehr vermisse, so sehr wie niemand sonst. Jemand, der mich beschützt und geliebt hat. Jemand, dessen Lieblingsfarbe Rot gewesen ist. Eine Igel-Prinzessin, die hier gewesen ist.
Bevor ich mit dem Schreiben beginne, wird die Geschichte von meiner Schwester nur auf eine Art und Weise erzählt. Meine Eltern erzählen in kurzen, wenigen, immer gleichen Sätzen. Wie wir geboren wurden, dass sie nichts konnte, dass sie nie essen wollte. Dass sie gestorben ist. Über meine Gedanken und Gefühle und Erlebnisse erzählt niemand, wie auch?
Und ich fange an zu schreiben, in ein Buch mit leeren Seiten, meine Geschichte. Keiner, der mir sagt, dass ich so nicht fühlen oder denken darf, Freiheit.
Bevor ich mit dem Schreiben beginne, habe ich Angst vor dem Tag, an dem ich feststelle, dass ich über alles geschrieben habe.
Bevor ich mit dem Schreiben beginne, habe ich Angst davor, was andere darüber sagen könnten.
Und dann schreibe ich nur noch, erst ganz schnell, weil alles heraus will, und später langsamer. Das Schreiben setzt unglaublich viel Energie in mir frei, ich freue mich, ich fühle mich leichter. Ich bin manchmal überrascht, wie stark ich bin, so stark.

Meine Schwester ist hier eine Igel-Prinzessin, meine Schwester und ich haben hier einen Ort. Hier sind Leute, die meine Schwester so kennenlernen wie ich, das ist wunderbar. Leute, die mit ihren Gedanken, ihren Geschichten und Fragen dazu beitragen, dass sich meine Gedanken und Gefühle ordnen und sortieren.

Endlich habe ich meine Geschichte aufgeschrieben. Ich habe keine Angst mehr, es fühlt sich gut an.
Ich glaube nicht mehr, dass ich meine Schwester loslassen muss oder dass ich über ihren Tod reden muss. Ich glaube nur, dass man irgendwas tun muss, damit man nicht platzt. Schreiben zum Beispiel.

Muss Trauer auch Erwachsen werden?

Lange Zeit dachte ich, dass Trauern etwas ist, das ich lernen und nachholen müsste. Als ich anfing, hier zu schreiben, fragte ich mich, wie ich das Trauern lernen könnte, und ich stellte es mir so ähnlich vor, wie wenn man eine neue Sprache lernt, dass es schwierig ist und man ganz viel Zeit dafür braucht.

Als ich ein Kind war, dachte ich, dass Trauer etwas für die Erwachsenen ist, und ich hoffte, dass ich das lernte, wenn ich groß war. Erwachsene weinten, wenn jemand gestorben war, und sie sagten Sätze zueinander („Jetzt muss sie nicht mehr leiden“) und umarmten sich.

Ich weinte nicht und ich redete nicht und ich umarmte auch niemanden. Ich tat einfach nur so, als wäre ich nicht mehr da, damit die Erwachsenen Ruhe hatten zum Weinen und Reden und Umarmen, und damit sie dabei nicht gestört wurden. Weil das war eine wichtige Sache.

Weil ich so tat, als wäre ich nicht da, und nicht redete und nicht weinte, blieben alle Gefühle in mir drin und ich war mit ihnen allein. Bei den Erwachsenen war das anders. Sie redeten und weinten und gaben sich die Gefühle hin und her und sie waren nicht allein damit.

Ich war traurig, dass ich darüber, dass meine Schwester tot war, nicht gut weinen konnte. Weil meine Schwester wollte bestimmt, dass ich darüber weinte. Und außerdem wäre ich dann nicht mehr so allein gewesen. Und nicht so falsch.

Als ich das Trauern lernen wollte, hatte ich mir viele Gedanken darüber gemacht, wie Erwachsene trauern, und ich wollte das genau so lernen. Ich dachte, ich muss das Trauern lernen und die Trauer um meine Schwester nachholen. Aber es funktionierte nicht. Ich konnte nicht weinen und reden funktionierte manchmal und manchmal überhaupt nicht. Und wenn ich schrieb, dann war ich fast immer ein Kind und nie Erwachsen. Manchmal fühlte ich Wut, das war richtig echte Kinderwut, und manchmal auch Traurigkeit ohne Tränen.

Ich erkannte, dass ich getrauert habe, und dass das nichts ist, was ich nachholen muss. Ich habe getrauert, wie Kinder das tun, vielleicht, oder wie ich es zu dem Zeitpunkt mit meinen Möglichkeiten tun konnte. Ich hatte geschwiegen und viel gedacht und mir meine Schwester herbei gewünscht. Ich war traurig gewesen und froh und leicht und schwer. Auch wenn ich nicht geweint und nicht geredet und niemanden umarmt hatte, habe ich getrauert. Meine Trauer ist eine Kindertrauer und nur im Vergleich zu der Trauer von vielen Erwachsenen wirkt sie seltsam, obwohl sie eigentlich stinknormal ist.

Manchmal denke ich darüber nach, ob Trauer auch Erwachsen werden muss, aber ich glaube, Trauer muss gar nichts, überhaupt nichts. Und dass man Trauern nicht lernen muss.

Weil niemand über sie redete

Manchmal hatte ich Angst, dass die ganze Geschichte mit meiner Schwester nicht stimmte. Angst, dass ich mir nur einbildete, dass es meine Schwester gegeben hatte, und dass sie jetzt tot war. Ich hatte Angst, dass es sie nie gegeben hatte und ich einfach nur verrückt war. Schließlich hatte niemand sonst eine tote Zwillingsschwester.
Wenn es meine Schwester nie gegeben hätte, dann wäre das noch viel schlimmer gewesen, als wenn sie da gewesen war und jetzt tot, darum war das eine richtig schlimme eklige Angst.

Es gab ziemlich wenig Beweise dafür, dass meine Schwester wirklich gelebt hatte. Es gab ein Foto von ihr im Regal. Eigentlich wusste ich, dass das Kind auf dem Foto meine Schwester war, aber wenn ich Angst hatte, war ich mir nicht mehr so sicher. Zu fragen, ob sie das wirklich war, wäre blöd gewesen, also fragte ich nicht. Man muss schließlich wissen, wer seine Geschwister sind und wer nicht, und ich wollte nicht ausgelacht werden, weil ich dumme Fragen stellte.
Es gab ihr Grab. Vielleicht glaubte ich einfach nur, dass sie im Grab drin war und es war gar nicht so. Aber auch das konnte ich nicht fragen.
Und es gab das Gefühl in mir drin, aber das war wohl kein richtiger Beweis.

Beweise dafür, dass meine Schwester nie gelebt hatte, gab es viele. Der beste Beweis dafür war einfach, dass niemand über sie redete.

Bücher über den Tod

Ich las sehr gerne. Manchmal kam in den Büchern, die ich las, auch der Tod vor.
Das Buch „Brüder Löwenherz“ von Astrid Lindgren las ich sehr gerne, besonders den Anfang, immer und immer wieder. Weil die Geschichte mich an meine eigene erinnerte, und dann wieder nicht. Zwei Brüder, der eine krank, und es ist klar, dass er bald sterben muss, der andere gesund. Und dann stirbt der gesunde Bruder vorher, er rettet seinen Bruder, als das Haus brennt, und stirbt dabei. Etwas später stirbt auch der kranke Bruder, und sie sind wieder vereint.
Die ganze Geschichte von den Brüdern Löwenherz war sehr traurig, aber es war wunderschön, dass sie nicht alleine tot sein mussten.
Mir gefiel immer sehr gut, dass der gesunder Bruder sich so gut um seinen Bruder kümmert, mit ihm so lieb redet und ihm dann sogar das Leben rettet. Und es machte mich gleichzeitig wahnsinnig sauer, weil ich wollte das gleiche für meine Schwester tun, und es ging nicht mehr, weil sie war tot. Ich war überzeugt davon, dass in unserer Geschichte etwas falsch gelaufen war – denn es hatte bei uns nicht gebrannt und sie war tot und ich nicht. Ich fühlte mich schlecht, weil ich nicht vor ihr gestorben war.
Etwas später las ich, dass Astrid Lindgren auf die Idee für das Buch gekommen war, als sie auf dem Friedhof das Grab zweier Brüder gesehen hatte. Das machte mich auch wütend, denn es war ja klar, dass wenn Astrid Lindgren am Grab meiner Schwester vorbei kam, sie gar nicht auf den Gedanken kommen würde, dass es mich auch gab. Sie konnte ja dann nicht wissen, dass meine Schwester noch eine Zwillingsschwester hatte, und dass ein Fehler passiert war und kein Brand, und dass ich meine Schwester auch retten wollte, aber das nicht ging.

Ich hatte auch ein anderes Buch, in dem der Tod vorkam. Es hieß „Gänseblümchen für Christine“. Sehr faszinierend fand ich, dass das Mädchen in dem Buch eine Schwester hatte, die so ähnlich wie meine Schwester war, und genau wie meine Schwester an ihrer Behinderung starb. Ich kannte sonst keine Kinder, die so waren wie meine Schwester.
Der erste Satz des Buches lautete: „Heute Nacht ist Christinchen gestorben.“ Und ich merkte ihn mir und fand ihn sehr gut, weil er so klar und so schmerzhaft war. Ich nahm mir vor, später auch ein Buch zu schreiben, und der erste Satz würde sein: „Heute Morgen ist meine Schwester gestorben.“ Und vielleicht würde ich dann noch etwas dazu schreiben und vielleicht auch nicht.
Beim Lesen war ich manchmal sehr wütend auf das Mädchen in dem Buch, weil ich fand, sie sollte ihre Schwester lieb haben und darüber traurig sein, dass sie tot ist. Manchmal weinte ich heimlich beim Lesen. Manchmal überlegte ich lange Zeit, ob meine Schwester gestunken hatte oder nicht (die Schwester des Mädchens hat nämlich gestunken).
Ich fühlte mich überhaupt nicht so, wie das Mädchen in dem Buch, und ich hätte lieber von einem Mädchen gelesen, das so fühlte wie ich. Es machte mich traurig, dass Christine nicht so geliebt wurde, wie sie war.

Dem Tod näher als dem Leben

Wenn man eine Schwester hat, die nicht reden kann, dann ist man dem Schweigen oft viel näher als dem Reden.
Ich fand, Reden war eine komische Sache und darum redete ich nicht gern. Also zuhause redete ich, aber woanders redete ich nur sehr wenig. Die Leute fanden es komisch, dass ich so wenig redete und dass ich nicht antwortete, wenn sie mich etwas fragten, aber ich fand das kein bisschen komisch. Schließlich redete meine Schwester ja auch nicht, und wenn sie das nicht konnte, wollte ich das auch nicht können. Überhaupt ging in meine Schwester ganz viel hinein – Worte, wenn jemand mit ihr sprach, Berührungen, – aber es kam nicht viel aus ihr heraus. Aus mir kam ständig was heraus: Worte, Lachen, Hüpfen, Rennen, Wut, Lieder, Stolz, …
Manchmal wollte ich das Reden und all meine Gedanken und Gefühle mit einem Seil in mir drin anbinden, damit nichts mehr aus mir herauskommen könnte. Weil aus meiner Schwester kam ja auch nichts heraus.
Als meine Schwester tot war, wollte ich das Seil noch viel enger um meine Gedanken und Gefühle ziehen. Damit alles in mir drin bleiben würde und nichts kaputt gehen würde draußen.

Ich nahm mir oft vor, ab sofort nicht mehr zu sprechen, aber ich war darin nicht so gut wie meine Schwester. Tot zu sein nahm ich mir auch oft vor, aber auch darin war ich nicht so gut wie meine Schwester.
Wenn man eine Schwester hat, die tot ist, dann ist man dem Tod manchmal näher als dem Leben.