Nicht traurig sein

Nicht traurig sein.

Sie sagen: „Sie war doch eh behindert.“
Und: „Sie konnte doch gar nichts.“
„Weißt du, es ist sowieso komisch, dass sie so lange gelebt hat, eigentlich hätte sie viel früher sterben müssen.“
„Sie wollte nie etwas essen“, sagen sie, und: „Sie hatte kein schönes Leben.“

Und ich nicke und sage nichts. Nichts davon, dass sie eine Prinzessin war, und noch ein Kind, und Kinder sterben nicht, und dass sie vielleicht lieber Luftküsse essen wollte, statt Nudeln mit Tomatensoße, und dass sie natürlich ein prinzessinnenhaft tolles Leben hatte, mit Dienern, die ihr die besten Sitzsacknester der Welt bauten. Ich sage nichts, weil ich nicht blöd dastehen will, und nicht die einzige sein will, die was anderes sagt, und ich will nicht ausgelacht werden, weil ich was anderes denke und fühle, und ein bisschen Angst bekomme ich. Angst davor, dass das stimmt, dass sie kein schönes Leben hatte. Das ist eine blöde Angst. Ich will, dass sie wieder geht, aber sie geht nicht.

Sie sagen nie: „Das ist so ungerecht und gemein. Warum kann denn nicht jemand anders sterben?“
Oder: „Wer hat denn sowas blödes wie den Tod erfunden?“
Oder: „Wir wollen sie wiederhaben, jetzt, sofort.“
Oder: „Der blöde liebe Gott soll das wieder in Ordnung bringen, was fällt dem eigentlich ein?“
Und sie sind nicht wütend und sie stampfen auch nicht mit dem Fuß auf, und sie schreien nicht alle Schimpfwörter heraus, die sie kennen, sie hauen nicht mit dem Kopf gegen die Wand, sie sind ruhig und sagen nur: „Es ist gut so, wie es ist.“

Ich bin wütend, und ich will schreien und mit dem Fuß aufstampfen und ich will Dinge kaputtmachen und nie mehr damit aufhören. Ich will allen sagen, wie ungerecht und gemein das ist, und ich will nicht, dass meine Schwester tot ist, und dass sie beerdigt wird, ich will das nicht. Aber ich bin ruhig, weil alle ruhig sind, und ich nicke, wenn sie sagen, dass alles gut ist, wie es ist, weil ich nicht auffallen will. Ich will, dass sie mich lieb haben, wütende Mädchen finden alle doof.

Ich verstecke meine Wut ganz tief unten in meinem Körper, und die Angst und die Traurigkeit auch. Man trauert nicht um tote Schwestern, die behindert waren und nichts konnten. Nicht traurig sein.

 

 

 

 

Vom Glücklich- und vom Traurigsein

Manchmal war mein Körper so vollgefüllt mit Glück, von unten bis oben, und es fühlte sich so an, als müsste ich platzen, weil mein Körper nicht groß genug war für so viel Glück. Ich war so glücklich, dass es kaum zum Aushalten war, und ich hüpfte und sang und lachte.
Es gab eine Menge Sachen, die mich glücklich machten. Wenn ich so schnell rannte, bis ich nicht mehr rennen konnte, und mein Herz schlug schnell und mir war ganz warm, dann fühlte ich mich sehr glücklich. Oder wenn meine Geschwister und ich im Kinderzimmer zelteten, und wir um Mitternacht heimlich Schokolade aßen, oder wenn wir uns im Sommer auf der Straße mit Wasserpistolen gegenseitig nassspritzten. Dann war ich glücklich.
Und dann, etwas später, als der Spaß vorbei war, dann wurde ich wieder traurig und war gar nicht mehr glücklich, nur traurig. Ich wusste gar nicht so genau, warum ich so traurig wurde, das kam einfach so. Und ich konnte mir gar nicht mehr richtig vorstellen, wie ich so glücklich gewesen sein konnte, und schämte mich dafür. Ich beschloss, unglücklicher zu werden, und nie wieder fröhlich.

Schließlich, so überlegte ich, würde es meine Schwester unter der Erde sicher überhaupt nicht nett finden, wenn ich so fröhlich wäre, obwohl sie tot ist. Meine Schwester konnte mich nicht mehr sehen, weil sie ja unter der Erde war, also wusste sie auch nicht, was ich tat und ob ich manchmal lachte, aber ich war mir sehr sicher, dass Gott, der ja oben im Himmel wohnt und alles sieht, was die Menschen auf der Erde machen, ihr alles weitersagte. Wenn ich lachte und fröhlich war, dann sagte er ihr das weiter, weil er sah das vom Himmel aus, durch das Dachfenster oder wenn wir draußen auf der Straße spielten, dann sah er das auch.
Dann, klar, dann würde sich meine Schwester natürlich sehr darüber wundern, warum ich nicht weinte und traurig war, obwohl sie tot war, und vielleicht würde sie sogar denken, dass es mir egal war, dass sie tot war, oder dass ich mich darüber freute, oder dass ich sie nicht mehr mochte.
Dabei war genau das Gegenteil richtig. Natürlich liebte ich sie sehr und natürlich vermisste ich sie sehr und natürlich wollte ich unbedingt, dass sie zurückkam, und manchmal wollte ich das so sehr, dass es wehtat, überall.
Also beschloss ich, unglücklicher zu werden, damit sie nichts Falsches dachte.
Nur, ich konnte nicht die ganze Zeit traurig sein, denn das war so traurig und vom Traurigsein wurde ich noch trauriger, und wenn man immer weiter traurig ist, wird man so traurig, dass man eine Pause braucht vom Traurigsein.
Ich versuchte, das meine Schwester zu erklären, damit sie nicht dachte, ich hätte sie nicht mehr lieb. Aber ich wusste nicht, ob sie mich verstand. Und dann dachte ich, dass sie vielleicht denken könnte, dass ich sie nicht mehr lieb hatte, und dann wurde ich so traurig, dass ich gar nicht mehr glücklich sein konnte.

 

 

 

Wir Kinder

Im Sommer liefen wir sehr oft barfuß, meine Geschwister und ich. Manchmal war es so heiß, dass wir ganz nah an den Häusern entlang laufen mussten, dort wo es einen schmalen, schattigen Streifen gab, damit wir uns nicht die Füße verbrannten. Es gab auch Stellen, wo keine Häuser standen und es keinen Schatten gab, dann rannten wir so schnell wir konnten, bis wir die nächste schattige Stelle erreichten, und taten so, als hätten wir nur ganz knapp überlebt, das war unser Spiel.
Wir bauten riesige Burgen im Sandkasten, mit Wassergraben, wir kochten Brennesselsuppen und pflanzten Kastanienbäume. Wir liefen durch den Bach und bauten Staudämme und jagten Verbrecher. Wir sammelten Regenwürmer und Schnecken und fanden drei Mark auf dem Spielplatz. Wir spielten und manchmal stritten wir uns und bewarfen uns gegenseitig mit Sand und schrieen uns an, und fühlten uns furchtbar traurig deswegen, und dann war es wieder okay. Wenn wir abends zurück nach Hause kamen, hatten wir schwarze Füße und Sand in den Hosentaschen.
Es war gut, Geschwister zu haben, mit denen man spielen konnte und die nicht den ganzen Tag nur herumlagen und nichts taten und die lebten, als unsere Schwester starb.

Meine Geschwister waren vom Tod unserer Schwester nicht sonderlich beeindruckt. Meine große Schwester sagte manchmal, dass sie jetzt nicht mehr leiden müsse, aber lieber erzählte sie von den Jungs in ihrer Klasse, in die sie verliebt war. Ich wollte auch so denken wie sie und mich verlieben, aber ich konnte nicht.

Mir war nie aufgefallen, dass unsere Schwester litt, und als sie tot war, konnte ich das nicht mehr nachprüfen. Ich hatte nie das Gefühl gehabt, dass sie Schmerzen hatte oder lieber mit uns spielen wollte, anstatt herumzuliegen, aber vielleicht hatte meine große Schwester recht und ich war einfach zu blöd gewesen, das zu bemerken und ich schämte mich, denn als Zwillingsschwester sollte man so etwas wissen.
Ich wollte denken, es ist in Ordnung, dass sie tot ist, weil sie nicht mehr leiden muss, tote Menschen leiden nämlich nicht, erklärte mir meine Schwester, und ich nickte und tat so, als würde ich das auch denken, aber in Wahrheit dachte ich einfach, dass ich sie wiederhaben wollte. Aber das sagte ich nicht. Meine große Schwester hätte dann bestimmt so etwas gesagt wie: „Du bist ja so gemein, du willst, dass sie leiden muss.“ Dabei wollte ich das gar nicht, nur dass sie bei mir war, das wollte ich, so sehr, dass mir vieles andere ziemlich egal war.

Für meine Geschwister war damit alles klar, und manchmal schaute ich sie an und bewunderte sie, wie gut sie damit zurecht kamen, wie normal sie waren, und fühlte mich noch hälftenhafter und verlorener. Sie waren gut darin, zu leben. Sie waren wie andere Kinder auch, nur ich war irgendwie anders.

Im Sommer ging ich oft auf den Friedhof, um die Blumen auf dem Beet zu gießen. Manchmal ging ich zusammen mit meinen Eltern, und meistens ging ich allein, das mochte ich am liebsten. Meine Geschwister hatten keine Lust darauf, also gingen sie nicht. Ich ging zum Brunnen in der Mitte des Friedhofs, hüpfte die kleine Mauer hinunter und nahm mir eine Gießkanne. Die Gießkanne füllte ich bis zum Rand mit Wasser, trug sie dann mit ausgestrecktem Arm zum Grab, und versuchte, kein Wasser zu verschütten. Die Gießkanne war richtig, richtig schwer, das kurz gemähte Gras kitzelte mich an den Füßen. Wenn ich gegossen hatte, blieb ich einen kurzen Moment vor dem Grab stehen. Manchmal überlegte ich dann, wer die anderen Kinder waren, die gestorben waren, denn da waren noch andere Gräber, wo auch Kinder drin lagen, das hatte mir meine Mama erklärt, und weil ich keine andere Kinder sah, die dort die Blumen gossen, ging ich davon aus, dass die anderen toten Kinder keine Zwillingsschwestern hatten. Auf der rechten Seite neben dem Grab meiner Schwester war kein Grab, nur Rasen, und ich beschloss, dass ich dort beerdigt werden wollte, wenn ich starb. Etwas später wurde ein anderes Kind auf dieser Stelle beerdigt, und ich war wütend deswegen. Das war doch mein Platz, und meine Schwester, wie könnt ihr es wagen, mir meinen Platz wegzunehmen. So dachte ich eine Zeit lang, und ich hasste das andere Kind, aber dann dachte ich nochmal richtig nach, und dachte dann, dass die zwei da unten schön spielen könnten und dass für mich da ja auch noch Platz wäre, und dann war das okay für mich.
Wenn ich gegossen und nachgedacht hatte, rannte ich mit der leeren Gießkanne zum Brunnen zurück, hüpfte die kleine Mauer herunter, hängte die Gießkanne an ihren Platz und ging aus dem Friedhof heraus.
Manchmal brachte ich meiner Schwester auch Blumen mit, die ich gepflückt hatte, und legte sie auf ihr Grab. Sie sollte schließlich nicht auf den Gedanken kommen, ich würde sie vergessen.

Wenn es kälter wurde, und die Pflanzen auf dem Grab nicht mehr so viel Wasser brauchten, ging ich seltener auf den Friedhof. An unserem Geburtstag und an dem Tag, an dem sie gestorben war, zündeten wir eine Kerze an. Oft ging ich dann, um nachzuschauen, ob die Kerze noch brannte. Sie war fast immer aus, das lag meistens daran, dass es sehr windig war. Sie hatte bestimmt bei Gott im Himmel Wind bestellt. Ich hatte Streichhölzer dabei und zündete die Kerze wieder an und freute mich, dass es so schön windig war. Wenn ich an unserem Geburtstag vor dem Grab stand, oder auch einen Tag danach, dann tat sie mir Leid, weil sie keine Geschenke bekommen hatte, und ich traute mich gar nicht, ihr von meinen Geschenken zu erzählen, denn ich wollte nicht, dass sie traurig war. Aber am Wichtigsten war mir, dass sie nicht dachte, ich würde sie vergessen.

Wo meine Schwester jetzt ist

Manche Leute erzählten mir, dass meine Schwester nun im Himmel sei. Ich mochte den Himmel und die Wolken sehr gern, aber ich wollte nicht, dass meine Schwester im Himmel war. Der Himmel ist so weit weg, noch viel weiter weg als der Sarg in der Erde, auch wenn das kaum vorstellbar ist. Ich war also dagegen, dass meine Schwester im Himmel war, und glaubte auch nicht so richtig daran. Schließlich gibts im Himmel keinen Boden auf dem man stehen kann, sodass jeder, der dort landet, sofort wieder runter auf die Erde fällt, und sowieso, wie sollte meine Schwester denn da hoch kommen, und außerdem hatte ich noch nie jemanden da oben gesehen, so viel ich auch in den Himmel guckte, und das machte die ganze Sache doch sehr unwahrscheinlich.

Trotzdem fragte ich mich manchmal, ob meine Schwester immer noch da war, in dem Sarg in der Erde, ganz tief unten. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jeder weiß ja, dass viele Sachen einfach nicht da bleiben, wo man sie hingelegt hat. Manche Sachen legt man an einen bestimmten Ort, und wenn man das nächste Mal danach schaut, sind sie verschwunden und man findet sie auch nicht wieder, oder man findet sie irgendwann zufällig an einem ganz anderen Ort, ohne dass man danach gesucht hat, und fragt sich, wie sie dort hin gekommen sind. Das war mit vielen Sachen so, mit Glitzerpapier und Playmobilpferden, mit Stickern und mit Socken, mit Süßigkeiten und mit Armbändern. Also warum sollte es also mit toten Schwestern anders sein. Deshalb war ich unsicher, und deshalb hätte ich auch gern einen Spaten genommen und sie ausgraben, nachgeguckt, ob sie noch da war. Ich wollte sie ja schließlich nicht verlieren. Wenn man einen Schatz vergraben hat, dann muss man jeden Tag nachgucken, ob er noch da ist. Das weiß jeder, der schon mal einen Schatz vergraben hat. Aber das war verboten, das Ausgraben, und ich traute mich selten, verbotene Sachen zu machen, also ließ ich es bleiben. Obwohl ich ein bisschen neugierig war und sehr sehnsuchtsvoll, gleichzeitig voller Hoffnung, dass sie noch da wäre, und voller Angst davor, dass sie, warum auch immer, nicht mehr da wäre.

Manche Leute erzählten mir auch, dass meine Schwester nun bei Gott wäre, und dass es ihr dort besser gehen würde und sie nicht mehr leiden müsste, aber da wurde ich sauer. Nirgendwo anders geht es ihr besser als hier bei mir, sagte ich wütend, wir haben ihr die besten Nester von der ganzen Welt gebaut. Ich konnte sehr wütend auf diesen Gott werden, wenn ich mir vorstellte, dass er nun alles für sie machte und mit ihr zusammen leben durfte, und ich war hier, allein, ohne sie.

Wenn ich in mich hineinfühlte, dann fühlte es sich so an, als wäre meine Schwester in einem sehr, sehr fernen Land, weit, weit weg. So weit weg, dass man keine Briefe dahin schicken kann und nicht telefonieren. So weit weg, dass es keinen gibt, der dort Urlaub macht, und noch nicht einmal jemand, der weiß, dass es dieses Land gibt. Also gibt es auch niemand, der den Weg dahin weiß. Deshalb konnte ich auch nicht wissen, wie es meiner Schwester dort ging und wie sie lebte. Dieses Land war einfach so fern, dass es wehtat. Das war das Gefühl, und im Grunde war es auch egal, wo sie war, das Gefühl war immer das gleiche: Zu weit weg von mir. Und das tat weh.