Ich hatte mir das alles anders vorgestellt

Als ich in die Schule kam, war ich allein.

Also natürlich nicht ganz allein, weil da waren ja andere Kinder, und manche von ihnen kannte ich schon aus dem Kindergarten, und Lehrerinnen, aber trotzdem, trotzdem fühlte ich mich allein. Ich fühlte mich allein, weil meine Schwester nicht bei mir war, sondern tot. Dabei hatte ich mir schon vorgestellt, wie es sein würde, wenn wir zusammen in die Schule gehen würden. Ich wusste von meiner großen Schwester schon viel über die Schule, und ich war mir sicher gewesen, dass es meiner Schwester dort sehr gut gefallen hätte, und jetzt war sie tot, und wenn man tot ist, kann man nicht mehr in die Schule gehen.

Ich hatte mir schon vorgestellt, wie meine Schwester und ich mit dem Bus in die Schule fahren würden. Da wir manchmal mit dem Bus fuhren, wusste ich, dass jeder Bus einen Platz in der Mitte hatte, wo ein Rollstuhl oder ein Kinderwagen stehen konnte. Das hatte ich mir schon genau angeguckt, ich wusste, wie der Rollstuhl hingestellt werden musste, klar, darüber musste ich ja Bescheid wissen, schließlich konnte das meine Schwester nicht allein. Ich stellte mir vor, wie meine Schwester im Rollstuhl auf dem Rollstuhlplatz im Bus fuhr, und dass ich auf dem Platz daneben sitzen würde. Auf dem Platz, zu dem man eine Stufe hinaufsteigen muss, und man hat eine Stange vor sich, und wenn man unter der Stange hindurch klettert, dann ist man direkt beim Rollstuhlplatz. Ich fand, von diesem Platz aus hatte man die beste Sicht und darum war das mein Lieblingsplatz im Bus. Ich stellte mir also vor, wie meine Schwester und ich im Bus saßen und zur Schule fuhren, und ich auf meinem Lieblingsplatz und sie auf dem Rollstuhlplatz, und erzählte ihr irgendwas, vielleicht eine lustige Geschichte.

Ich hatte mir schon vorgestellt, wie meine Schwester in der Schule neben mir sitzen würde, in ihrem Rollstuhl, und wie alle Kinder sie streicheln würden und wie neidisch die anderen Kinder sein würden, weil ich so eine Schwester hatte und sie nicht. Ich stellte mir vor, dass meine Schwester in der Schule einen Sitzsack haben würde, damit sie darin gemütlich liegen konnte, und ich stellte mir vor, wie die anderen Kinder mich fragten, ob sie ihr Nester bauen dürften. Und ich würde sagen: „Ja, wenn du ein gemütliches Nest für sie baust, dann darfst du es.“ Und ich würde ihnen zeigen, wie man die gemütlichsten Nester der Welt baut.

Ich hatte mir schon vorgestellt, dass alle Kinder gerne mit uns spielen würden und alle Kinder mich mögen würden, und nett und freundlich zu mir sein würden. Schließlich war meine Schwester eine Prinzessin, und jeder mag Prinzessinnen sehr gern, und weil meine Prinzessinnen-Schwester mich am allerliebsten hatte, mussten die anderen Kinder mich auch mögen, so einfach war das.

So hatte ich mir das vorgestellt. Aber als ich dann in die Schule kam, war alles anders, als ich es mir vorgestellt hatte, anders, als ich es überlegt hatte, anders, als ich es geplant hatte.

Auf dem Rollstuhlplatz im Bus stand kein Rollstuhl und neben mir im Unterricht saßen andere Kinder und ich brachte niemanden bei, wie man die besten Nester der Welt baut. Ich redete und spielte nicht viel mit den anderen Kindern, weil ich wollte nicht, dass meine Schwester traurig war, weil sie tot sein musste und nicht in die Schule gehen konnte, und nicht reden und spielen konnte. Nicht alle Kinder waren nett und freundlich zu mir, vielleicht wussten sie nicht einmal, dass meine Schwester eine Prinzessin gewesen war, oder sie hatte es schon vergessen. Überhaupt, ich hatte Angst, dass niemand mich beschützen würde. Meine Schwester hatte mich immer so gut beschützt, aber jetzt war ich allein, und darum hatte ich Angst. Manchmal hatte ich so viel Angst, dass ich gar nicht antworten konnte, wenn mich jemand etwas fragte oder soviel, dass ich in die Hose machte, weil ich mich nicht traute, zu fragen, ob ich auf die Toilette gehen könnte.

Ich hatte mir das alles anders vorgestellt.

Es kann sein, dass ich Angst habe

Es kann sein, dass ich Angst habe. Manchmal.

Es kann sein, dass ich Angst habe, dass jemand stirbt. Es kann sein, dass ich Angst habe, zu vergessen. Es kann sein, dass ich Angst habe, zu verlieren. Es kann sein, dass ich Angst habe, vor dem Weinen und davor, nicht weinen zu können. Es kann sein, dass ich Angst habe, zu schreien und davor, nicht wieder damit aufhören zu können. Es kann sein, dass ich Angst habe, vor dem Chaos und vor dem Kaputtgehen meiner Pläne und Träume. Es kann sein, dass ich Angst habe, die Orientierung zu verlieren und nicht zu wissen, wohin. Es kann sein, dass ich Angst habe, mich zu bewegen und gleichzeitig davor, stehenzubleiben. Es kann sein, dass ich Angst habe, vor der Zeit. Es kann sein, dass ich Angst habe, vor dem Tod.

Es kann sein, dass ich Angst habe, vor meiner eigenen Energie und Freude und meiner Geschwindigkeit. Es kann sein, dass ich Angst habe, vor dem Leben. Manchmal.

Der Tod

Eigentlich konnte man wegen fast allem verhandeln, nur der Tod war unerbittlich. Wenn man nicht ins Bett gehen wollte, sondern lieber spielen, wenn man kein Gemüse essen wollte oder das Müsli ohne Rosinen, dann konnte man darüber diskutieren, und es gab Kompromisse, die man finden konnte.
Nur der Tod kam einfach so, ohne dass er sich angemeldet hatte oder ohne, dass er eingeladen wurde. Er nahm keine Rücksicht darauf, was er kaputt machte, und war für überhaupt nichts gut. Er machte keine Kompromisse. Er interessierte sich nicht dafür, wenn ich sagte: „Warte doch bitte noch ein bisschen“, und deswegen hasste ich ihn. Er interessierte sich noch nicht mal dafür, dass ich ihn blöd fand. „Ich habe doch Leben gesagt“, schrie ich ihn an, und mein Kopf wurde ganz rot vor Wut. Das war dem Tod egal.
„So will niemand dein Freund sein“, sagte ich zum Tod und schüttelte verärgert mit dem Kopf, so wie das die Erzieherinnen im Kindergarten sagten, wenn ein Kind die anderen nicht mitspielen lassen wollte oder wenn ein Kind ein anderes haute oder biss. „So will niemand dein Freund sein.“ Der Tod war der einzige, den das nicht interessierte, vielleicht, weil er nicht gekommen war, um Freunde zu finden.

 

 

Als meine Schwester starb, habe ich nicht geweint

Als meine Schwester starb, saßen unsere Eltern auf Stühlen neben der Heizung und weinten, und wir Kinder saßen auf dem Sofa und weinten nicht. Meine Schwester lag in ihrem Sitzsack und war tot. Ich war sehr geschockt, weil ich nie gedacht hätte, dass sie sterben würde. Ich hätte einfach nie damit gerechnet. Ich wusste, dass sie behindert war, aber dass sie sterben würde, das wusste ich nicht. Warum auch? Wie soll man denn bitte schön vom Herumliegen sterben?

Ich hatte schon Pläne gemacht, für uns beide. Mir war klar, dass es für sie später schwierig werden könnte, einen Mann zu finden, da sie ja nicht sprechen und nicht laufen konnte und auch vieles andere nicht. Deshalb hatte ich beschlossen, dass ich einen Mann für uns beide finden würde, den wir dann eines Tages gemeinsam heiraten würden. So war das geplant! So und nicht anders!

Irgendwann kam jemand, um sie in einen Sarg zu legen, auch das war nicht geplant.