Ich habe meiner Schwester nicht Tschüss gesagt

Ich habe meiner Schwester nicht Tschüss gesagt.

Ich weiß nicht genau, warum nicht, denn dass man Tschüss sagen und höflich sein soll, das bekommt man ja schon früh beigebracht. Vielleicht war es, weil sich alles in mir eingefroren anfühlte und starr und alles wehtat und ich gar nicht so schnell verstand, vielleicht habe ich ihr deshalb nicht Tschüss gesagt.

Normalerweise war es so, dass die Erwachsenen sehr gut aufpassten, dass man sich benahm und „hallo“ und „tschüss“ und „danke“ sagte. Wenn man in der Metzgerei ein Stück Fleischwurst bekam oder wenn man irgendwas anderes bekam. Im Kindergarten gab es die Regel, dass man der Erzieherin die Hand geben und „tschüss“ sagen musste, jeden Tag, wenn man abgeholt wurde und nach Hause ging. Ich mochte das überhaupt nicht, ich fand das blöd, und meine anderen Geschwister fanden das auch blöd, und trotzdem machten wir es, weil es diese Regel gab.
Dummerweise gab es keine Regel dafür, wie man sich verhalten soll, wenn die Schwester gestorben ist. Und die Erwachsenen, die sonst so gut aufpassten, ob man höflich war, passten nicht auf, ob ich „danke“ und „tschüss“ sagte, denn sie waren beschäftigt mit Weinen und Traurigsein und Reden. Das war sowieso komisch, denn ich hatte meine Eltern nie zuvor weinen sehen, und nun weinten sie und achteten nicht mehr auf Regeln, das war komisch und auch ziemlich besorgniserregend.

Ich sagte ihr also nicht Tschüss, ich blieb dort stehen, wo ich stand, bewegungslos, sie lag tot in ihrem Sitzsack ein paar Schritte von mir entfernt, aber so fern, unglaublich fern, und die Angst war in meinem Körper ausgelaufen.
Erst später, als sie schon in der Erde vergraben war, fiel mir auf, dass ich ihr gar nicht Tschüss gesagt hatte. Ich war traurig deswegen, dass ich sie nicht nochmal umarmt oder gestreichelt oder ihre Hand gehalten hatte.

Denn ich weiß gar nicht mehr, wie sie sich anfühlte.

3 Gedanken zu “Ich habe meiner Schwester nicht Tschüss gesagt

  1. Körperlich kann man diese Momente bestimmt nicht nachholen. Doch habe ich mich von meinem Vater erst viel später, in einem ruhigen Moment, ganz bewußt verabschiedet. In Gedanken und mit ganz viel Gefühl. Eine kleine Zwiesprache half mir dann beim Loslassen und Verabschieden.

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