Muss Trauer auch Erwachsen werden?

Lange Zeit dachte ich, dass Trauern etwas ist, das ich lernen und nachholen müsste. Als ich anfing, hier zu schreiben, fragte ich mich, wie ich das Trauern lernen könnte, und ich stellte es mir so ähnlich vor, wie wenn man eine neue Sprache lernt, dass es schwierig ist und man ganz viel Zeit dafür braucht.

Als ich ein Kind war, dachte ich, dass Trauer etwas für die Erwachsenen ist, und ich hoffte, dass ich das lernte, wenn ich groß war. Erwachsene weinten, wenn jemand gestorben war, und sie sagten Sätze zueinander („Jetzt muss sie nicht mehr leiden“) und umarmten sich.

Ich weinte nicht und ich redete nicht und ich umarmte auch niemanden. Ich tat einfach nur so, als wäre ich nicht mehr da, damit die Erwachsenen Ruhe hatten zum Weinen und Reden und Umarmen, und damit sie dabei nicht gestört wurden. Weil das war eine wichtige Sache.

Weil ich so tat, als wäre ich nicht da, und nicht redete und nicht weinte, blieben alle Gefühle in mir drin und ich war mit ihnen allein. Bei den Erwachsenen war das anders. Sie redeten und weinten und gaben sich die Gefühle hin und her und sie waren nicht allein damit.

Ich war traurig, dass ich darüber, dass meine Schwester tot war, nicht gut weinen konnte. Weil meine Schwester wollte bestimmt, dass ich darüber weinte. Und außerdem wäre ich dann nicht mehr so allein gewesen. Und nicht so falsch.

Als ich das Trauern lernen wollte, hatte ich mir viele Gedanken darüber gemacht, wie Erwachsene trauern, und ich wollte das genau so lernen. Ich dachte, ich muss das Trauern lernen und die Trauer um meine Schwester nachholen. Aber es funktionierte nicht. Ich konnte nicht weinen und reden funktionierte manchmal und manchmal überhaupt nicht. Und wenn ich schrieb, dann war ich fast immer ein Kind und nie Erwachsen. Manchmal fühlte ich Wut, das war richtig echte Kinderwut, und manchmal auch Traurigkeit ohne Tränen.

Ich erkannte, dass ich getrauert habe, und dass das nichts ist, was ich nachholen muss. Ich habe getrauert, wie Kinder das tun, vielleicht, oder wie ich es zu dem Zeitpunkt mit meinen Möglichkeiten tun konnte. Ich hatte geschwiegen und viel gedacht und mir meine Schwester herbei gewünscht. Ich war traurig gewesen und froh und leicht und schwer. Auch wenn ich nicht geweint und nicht geredet und niemanden umarmt hatte, habe ich getrauert. Meine Trauer ist eine Kindertrauer und nur im Vergleich zu der Trauer von vielen Erwachsenen wirkt sie seltsam, obwohl sie eigentlich stinknormal ist.

Manchmal denke ich darüber nach, ob Trauer auch Erwachsen werden muss, aber ich glaube, Trauer muss gar nichts, überhaupt nichts. Und dass man Trauern nicht lernen muss.

Bücher über den Tod

Ich las sehr gerne. Manchmal kam in den Büchern, die ich las, auch der Tod vor.
Das Buch „Brüder Löwenherz“ von Astrid Lindgren las ich sehr gerne, besonders den Anfang, immer und immer wieder. Weil die Geschichte mich an meine eigene erinnerte, und dann wieder nicht. Zwei Brüder, der eine krank, und es ist klar, dass er bald sterben muss, der andere gesund. Und dann stirbt der gesunde Bruder vorher, er rettet seinen Bruder, als das Haus brennt, und stirbt dabei. Etwas später stirbt auch der kranke Bruder, und sie sind wieder vereint.
Die ganze Geschichte von den Brüdern Löwenherz war sehr traurig, aber es war wunderschön, dass sie nicht alleine tot sein mussten.
Mir gefiel immer sehr gut, dass der gesunder Bruder sich so gut um seinen Bruder kümmert, mit ihm so lieb redet und ihm dann sogar das Leben rettet. Und es machte mich gleichzeitig wahnsinnig sauer, weil ich wollte das gleiche für meine Schwester tun, und es ging nicht mehr, weil sie war tot. Ich war überzeugt davon, dass in unserer Geschichte etwas falsch gelaufen war – denn es hatte bei uns nicht gebrannt und sie war tot und ich nicht. Ich fühlte mich schlecht, weil ich nicht vor ihr gestorben war.
Etwas später las ich, dass Astrid Lindgren auf die Idee für das Buch gekommen war, als sie auf dem Friedhof das Grab zweier Brüder gesehen hatte. Das machte mich auch wütend, denn es war ja klar, dass wenn Astrid Lindgren am Grab meiner Schwester vorbei kam, sie gar nicht auf den Gedanken kommen würde, dass es mich auch gab. Sie konnte ja dann nicht wissen, dass meine Schwester noch eine Zwillingsschwester hatte, und dass ein Fehler passiert war und kein Brand, und dass ich meine Schwester auch retten wollte, aber das nicht ging.

Ich hatte auch ein anderes Buch, in dem der Tod vorkam. Es hieß „Gänseblümchen für Christine“. Sehr faszinierend fand ich, dass das Mädchen in dem Buch eine Schwester hatte, die so ähnlich wie meine Schwester war, und genau wie meine Schwester an ihrer Behinderung starb. Ich kannte sonst keine Kinder, die so waren wie meine Schwester.
Der erste Satz des Buches lautete: „Heute Nacht ist Christinchen gestorben.“ Und ich merkte ihn mir und fand ihn sehr gut, weil er so klar und so schmerzhaft war. Ich nahm mir vor, später auch ein Buch zu schreiben, und der erste Satz würde sein: „Heute Morgen ist meine Schwester gestorben.“ Und vielleicht würde ich dann noch etwas dazu schreiben und vielleicht auch nicht.
Beim Lesen war ich manchmal sehr wütend auf das Mädchen in dem Buch, weil ich fand, sie sollte ihre Schwester lieb haben und darüber traurig sein, dass sie tot ist. Manchmal weinte ich heimlich beim Lesen. Manchmal überlegte ich lange Zeit, ob meine Schwester gestunken hatte oder nicht (die Schwester des Mädchens hat nämlich gestunken).
Ich fühlte mich überhaupt nicht so, wie das Mädchen in dem Buch, und ich hätte lieber von einem Mädchen gelesen, das so fühlte wie ich. Es machte mich traurig, dass Christine nicht so geliebt wurde, wie sie war.

Dem Tod näher als dem Leben

Wenn man eine Schwester hat, die nicht reden kann, dann ist man dem Schweigen oft viel näher als dem Reden.
Ich fand, Reden war eine komische Sache und darum redete ich nicht gern. Also zuhause redete ich, aber woanders redete ich nur sehr wenig. Die Leute fanden es komisch, dass ich so wenig redete und dass ich nicht antwortete, wenn sie mich etwas fragten, aber ich fand das kein bisschen komisch. Schließlich redete meine Schwester ja auch nicht, und wenn sie das nicht konnte, wollte ich das auch nicht können. Überhaupt ging in meine Schwester ganz viel hinein – Worte, wenn jemand mit ihr sprach, Berührungen, – aber es kam nicht viel aus ihr heraus. Aus mir kam ständig was heraus: Worte, Lachen, Hüpfen, Rennen, Wut, Lieder, Stolz, …
Manchmal wollte ich das Reden und all meine Gedanken und Gefühle mit einem Seil in mir drin anbinden, damit nichts mehr aus mir herauskommen könnte. Weil aus meiner Schwester kam ja auch nichts heraus.
Als meine Schwester tot war, wollte ich das Seil noch viel enger um meine Gedanken und Gefühle ziehen. Damit alles in mir drin bleiben würde und nichts kaputt gehen würde draußen.

Ich nahm mir oft vor, ab sofort nicht mehr zu sprechen, aber ich war darin nicht so gut wie meine Schwester. Tot zu sein nahm ich mir auch oft vor, aber auch darin war ich nicht so gut wie meine Schwester.
Wenn man eine Schwester hat, die tot ist, dann ist man dem Tod manchmal näher als dem Leben.

 

Das blöde Gemisch

Lange Zeit wusste ich nicht, dass das, was in mir ist, Trauer ist. Und da war niemand, der mir das erzählte. Überhaupt gab es keine Worte für das, was in mir war. Ich wusste nur, dass da ein blödes Gemisch von blöden Gefühlen in mir war, Gefühle, die machten, dass ich Angst bekam und dass ich mich traurig und wütend fühlte und anders. Anders, weil ich die einzige auf der ganzen Welt mit diesen Gefühlen war und deshalb gab es auch keine Worte dafür.
Das blöde Gemisch saß dort, wo das Herz ist, unter der Brust, und machte den Körper schwer. Manchmal wollte es aus meinem Körper herauskommen, aber ich drängte es zurück. Ich wollte nicht anders sein und auch nicht traurig oder wütend und Angst haben wollte ich auch nicht. Ich machte den Mund ganz fest zu, damit das blöde Gemisch nicht aus meinem Körper herauskommen könnte. Das war ziemlich anstrengend, weil das blöde Gemisch war ziemlich stark und ich nicht.

Ich wollte lieber meine Schwester zurück haben, damit das blöde Gemisch weg ging. Ich wollte sowieso lieber meine Schwester zurück haben, weil sie gehörte zu mir und nirgendwo sonst hin. Und ich wartete und wartete und wartete, aber sie kam nicht wieder.
Und das blöde Gemisch blieb und gehörte ebenso zu mir, wie meine Schwester zu mir gehört hatte. Es war gut, dass wenigstens irgendwas von meiner Schwester bei mir war, und ich wollte das blöde Gemisch nicht mehr hergeben. Es blieb und ich gewöhnte mich daran, dass es da war. Es machte immer noch, dass ich Angst hatte und traurig war und anders und es tat weh, aber es war da, und es war gut, dass es da war.

Als ich erwachsen war, redete ich zum ersten Mal mit anderen Leuten über das blöde Gemisch in meinem Körper. Sie sagten, dass ich das blöde Gemisch gehen lassen sollte. Dieser Gedanke machte mir noch viel mehr Angst als das blöde Gemisch selbst. Wenn das blöde Gemisch weg wäre, dann wäre auch meine Schwester weg, ganz weit weg, noch viel weiter weg als vorher. Und außerdem wusste ich auch gar nicht, wie das gehen sollte, denn das blöde Gemisch wollte nicht gehen.
Aber ich beschloss, dass blöde Gemisch nochmal genau anzugucken. Auch das machte mir Angst, ganz viel Angst. Denn auch wenn das blöde Gemisch schon so lang in meinem Körper war, hatte ich es nie richtig angeschaut. Weil ich Angst hatte, weinen zu müssen und nie wieder damit aufhören zu können. Oder Angst davor, verrückt zu werden.

Ich fing damit an, das blöde Gemisch in seinen Einzelteilen anzugucken. Da waren Erinnerungen und Sätze, die gesagt wurden und die ich auswendig konnte, Geschichten und Dinge wie Angst und Schuldgefühle, Schmerzen und Glück, Wut und Traurigkeit und Liebe. Das war meine Trauer, irgendwo da war meine Trauer.
Da war Trauer darum, dass meine Schwester tot war, und Trauer darum, dass ich mich so unvollständig fühlte und Trauer um das Kind, dass ich gewesen war und um meine Kindheit.

Es war okay, das blöde Gemisch anzusehen und gar nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte. Ich hatte keine Angst mehr vor dem blöden Gemisch, oder vielleicht noch ein bisschen und nicht mehr so viel. Es machte mich stark, dass ich die Trauer angeguckt hatte.

Es darf bleiben, das blöde Gemisch, weil meine Schwester ist tot. Es darf sich verändern und anders mischen. Ich tausche die Angst ein gegen das Glück, denn meine Schwester war hier.

 

Mit diesem Text beteilige ich mich an der Blog-Aktion Alle reden über Trauer des Blogs In lauter Trauer.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unsichtbar

Die Leute schauten meine Schwester an. Weil sie so schön war. Und klar, weil sie eine Prinzessin war, und Prinzessinnen muss man sich anschauen, das ist auch klar. Das gehört sich so. Manche Leute guckten meine Schwester so an, als hätten sie noch nie eine Prinzessin gesehen. Vielleicht hatten sie wirklich noch nie eine Prinzessin gesehen, und dann war es gut, dass sie nun eine Prinzessin angucken konnten. Es gab auch welche, die sich wunderten, weil meine Schwester nicht gehen und nicht reden konnte und andere Dinge auch nicht konnte. Ich fand nicht, dass das etwas war, über das man sich wundern musste. So war meine Schwester einfach. Aber natürlich, wenn man noch nie eine Prinzessin gesehen hatte, dann war das wohl etwas, über das man sich wundern musste.

Wenn die Leute fertig damit waren, meine Schwester anzuschauen, dann guckten sie unsere Eltern an, die waren schließlich die Eltern der Prinzessin, und dann guckten sie mich und meine anderen Geschwister an, aber nicht so lange, wir waren ja keine Prinzessinnen. Natürlich mochten alle Leute Prinzessinnen viel lieber als normale Kinder, weil Prinzessinnen schöner sind und vornehmer und nicht so frech und weil sie keine Schimpfwörter sagen und sich nicht streiten. Ich war keine Prinzessin, auch wenn ich manchmal lieber eine sein wollte und manchmal nicht.

Als meine Schwester tot war, guckten die Leute mich und meine anderen Geschwister an, denn es gab ja keine Prinzessin mehr, die sie anschauen konnten. Das war gegen die Regel. Das war blöd. Ich wollte nicht angeschaut werden. Ich war ja keine Prinzessin. Ich wollte lieber wieder unsichtbar sein.

 

Massengrab

Manchmal gingen wir mit Volker und Barbara (Namen geändert) zum Grab. Volker wollte lieber, dass meine Schwester in einem Massengrab beerdigt wäre, und das sagte er uns auch oft, wenn wir zusammen auf dem Friedhof waren. Er erklärte uns, was ein Massengrab ist: Da wird ein großes Loch gebuddelt und dann werden alle Toten da rein geworfen und dann wird es wieder zugebuddelt und dann ist fertig. Sagte er. Barbara sagte nichts dazu.

Erst fand ich seine Idee nicht so schlecht, weil ich es traurig fand, dass meine Schwester ganz allein im Grab sein musste. Sie war Alleinsein nämlich nicht gewöhnt. Sie war Alleinsein nicht gewöhnt, weil immer jemand da gewesen war, und nach ihr geguckt hatte und danach, dass es ihr gutging und so, und nun sollte sie plötzlich ganz allein sein, nur, weil sie tot war? Im Massengrab, da ist man nicht allein, jedenfalls, wenn es stimmte, was Volker erzählte. Aber dann, dann dachte ich noch länger darüber nach und stellte mir vor, wie meine Schwester zwischen anderen toten Menschen lag und fast von ihnen zerdrückt wurde. Das war keine schöne Vorstellung und ich war froh, dass meine Schwester ein eigenes Grab hatte. Außerdem wollte ich nicht, dass jemand meine Schwester herumwarf. Ich verstand nicht, warum Volker wollte, dass meine Schwester in einem Massengrab beerdigt wäre.

Vielleicht dachte er nicht daran, dass meine Schwester dann von anderen, dickeren Menschen fast erdrückt würde, und dass das bestimmt unangenehm für sie wäre. Es war aber schon blöd, nicht daran zu denken, fand ich. Wenn Volker über das Massengrab redete, sagten wir nichts dazu. Ich hatte Angst, etwas dazu zu sagen. Ich schaute auf den Boden und hoffte, dass es schnell vorbei war. Und dass niemand anderes Volker reden hörte, das wäre mir peinlich gewesen. Auch sonst sagte niemand was dazu, meine anderen Geschwister nicht, weil sie hatten auch Angst, und Barbara sagte auch nichts. Das fand ich aber ein bisschen komisch, schließlich war sie ja erwachsen, und wenn man erwachsen ist, braucht man keine Angst zu haben.

Wenn ich Volker sah, dachte ich oft darüber nach, auch Jahre später noch, dass er lieber wollte, dass meine Schwester in einem Massengrab beerdigt wäre, und ich stellte mir vor, wie sie zwischen anderen toten Menschen liegen musste und das war ziemlich ekelig. Ich wollte Volker lieber angucken können, ohne daran zu denken, aber das ging nicht. Manchmal wollte ich ihn fragen, ob er immer noch das mit dem Massengrab wollte oder er seine Meinung geändert hatte, aber das ging auch nicht. Und manchmal wollte ich Barbara fragen, ob sie auch ein Massengrab wollte für meine Schwester, aber auch das ging nicht. Weil die Angst war noch da.

Über Fragen und Gedanken

Wenn man über Menschen spricht, die gestorben sind, macht das den Leuten Angst und sie werden traurig und manchmal werden sie komisch. Wenn sie komisch werden, das ist am schlimmsten, denn dann weiß man gar nicht, was die Leute denken, sondern nur, dass es falsch war, dass man etwas gesagt hat. Darum redete ich lieber nicht über meine Schwester, als sie tot war, denn ich wollte niemanden traurig machen, und dass jemand komisch wurde, das wollte ich erst recht nicht.

Manche Sachen, die mir einfielen, die ich sagen oder fragen wollte, waren gar keine Sachen, die zum Traurigmachen gedacht waren, aber trotzdem wurden die Leute davon komisch. Über manche Sachen hatte ich, als meine Schwester noch lebte, gar nicht nachgedacht, darum musste ich eben darüber nachdenken, als meine Schwester tot war. Zum Beispiel dachte ich darüber nach, wie sie ihr Essen durch einen Schlauch, der durch ihr Nasenloch ging, bekommen hatte. Und natürlich fragte ich mich, wie das Essen von der Nase in den Bauch kam. Wenn der Schlauch durch ihren Mund gegangen wäre, dann hätte ich das verstanden, aber so, wie sollte das gehen? Ich fragte niemanden, wie das ging, weil ich nicht wollte, dass jemand traurig sein musste wegen mir. Aber ich dachte sehr viel darüber nach, und darüber, dass das bestimmt wehtut, wenn man einen Schlauch in der Nase hat. Meine Schwester war eine sehr tapfere Prinzessin gewesen, so viel stand fest. Ich wollte keinen Schlauch in der Nase haben.

Manchmal konnte ich gar nicht einschlafen, weil da so viele Gedanken und Fragen in mir waren, und niemand, den ich fragen konnte, und in der Schule kriegte ich das auch nicht beigebracht. Manchmal wurden die Gedanken und Fragen vom Denken so groß, dass ich Angst bekam und manchmal wurde mir schlecht und traurig dabei. Manchmal stellte ich mir vor, wie die im Krankenhaus meiner Schwester den Schlauch in die Nase gesteckt hatten, richtig fest, obwohl meine Schwester das gar nicht gewollt hatte. Und wie weh das getan haben musste.

 

Am Grab

Manchmal gingen wir zusammen zum Grab meiner Schwester, meine Eltern, meine anderen Geschwister und ich. Ich wusste gar nicht genau, was man macht, wenn man am Grab steht, und das fragte ich mich jedesmal, wenn wir zusammen vor dem Grab standen. Wir gingen nicht so oft alle zusammen zum Grab, nur manchmal.

Also ich wusste natürlich, dass man ganz still sein muss, und nicht reden darf und schon gar nicht lachen, und dass man nicht herumhampeln soll. Man soll still sein, und still stehen, und man soll das Grab anschauen, und niemand anderes sonst soll man anschauen. Das wusste ich, weil ich die Erwachsenen dabei beobachtet hatte, heimlich, wie sie das machten. Wenn wir zusammen vor dem Grab standen, dann guckte ich manchmal ganz kurz zu meinen Eltern, weil ich wissen wollte, wie sie da standen und wie sie guckten und was sie machten, und dann guckte ich schnell wieder auf das Grab, damit niemand merkte, dass ich woanders hin geguckt hatte. Ich versuchte, so zu stehen und so zu gucken wie sie, und niemand fiel auf, dass ich gar nicht so genau wusste, was man macht, wenn man vor dem Grab steht.

Ich verstand nicht, warum ich so auf das Grab starren sollte, obwohl da gar nichts passierte. Das Grab und die Pflanzen, die darauf wuchsen, veränderten sich nicht so schnell. Besser hätte ich es gefunden, sich mit dem Rücken auf den Rasen neben das Grab zu legen. Dann könnte man Vögeln und Wolken beim Fliegen zuschauen und sehen, wie der Wind die Blätter des Baumes berührt. Außerdem ist man, wenn man sich auf die Erde legt, näher an der toten Person, als wenn man herumsteht, weil die tote Person ja in der Erde vergraben ist. Auf das Grab starren und still sein, das ist langweilig und traurig, aber das sagte ich nie.

Ich wusste auch nicht, was man denken sollte, wenn man vor dem Grab stand. Das war etwas, das man sich nicht abschauen konnte, weil man Gedanken nicht sehen kann. Die Erwachsenen redeten nicht darüber, was sie dachten. Ich fragte mich, ob sie traurig waren, weil meine Schwester tot war, und wie traurig sie waren.

Mir fiel es manchmal schwer, meine Gedanken beisammen zu halten und nur an meine Schwester zu denken, wenn wir vor dem Grab standen. Na klar, ich dachte dann daran, dass meine Schwester tot war, und dass das blöd war, aber dann dachte ich plötzlich auch an andere Dinge, an die Schule, oder an Hausaufgaben oder an Dinge, die ich machen wollte. Es war dann so, als wären die Gedanken an meine Schwester weggedacht, und ich wusste, ich soll an meine Schwester denken, aber da kamen keine Gedanken mehr dazu. Weil, das war auch klar, wenn man vor dem Grab einer Person steht, dann soll man an diese Person denken und an nichts anderes.

Meine Eltern konnten das, Stillsein und aufs Grab gucken und an meine Schwester denken. Meine anderen Geschwister konnten das auch. Ich hoffte, dass niemand sah, dass ich das nicht konnte.

Dann waren meine Eltern fertig mit Stillsein und Gucken, und wir gingen aus dem Friedhof heraus. Sie fingen wieder an zu reden, sie fragten mich nach der Schule und nach den Hausaufgaben und so was, aber ich fühlte mich, als wäre mein Herz eingefroren und alles war starr und ich konnte nur noch daran denken, dass meine Schwester tot war, und an nichts anderes mehr.

 

Nicht traurig sein

Nicht traurig sein.

Sie sagen: „Sie war doch eh behindert.“
Und: „Sie konnte doch gar nichts.“
„Weißt du, es ist sowieso komisch, dass sie so lange gelebt hat, eigentlich hätte sie viel früher sterben müssen.“
„Sie wollte nie etwas essen“, sagen sie, und: „Sie hatte kein schönes Leben.“

Und ich nicke und sage nichts. Nichts davon, dass sie eine Prinzessin war, und noch ein Kind, und Kinder sterben nicht, und dass sie vielleicht lieber Luftküsse essen wollte, statt Nudeln mit Tomatensoße, und dass sie natürlich ein prinzessinnenhaft tolles Leben hatte, mit Dienern, die ihr die besten Sitzsacknester der Welt bauten. Ich sage nichts, weil ich nicht blöd dastehen will, und nicht die einzige sein will, die was anderes sagt, und ich will nicht ausgelacht werden, weil ich was anderes denke und fühle, und ein bisschen Angst bekomme ich. Angst davor, dass das stimmt, dass sie kein schönes Leben hatte. Das ist eine blöde Angst. Ich will, dass sie wieder geht, aber sie geht nicht.

Sie sagen nie: „Das ist so ungerecht und gemein. Warum kann denn nicht jemand anders sterben?“
Oder: „Wer hat denn sowas blödes wie den Tod erfunden?“
Oder: „Wir wollen sie wiederhaben, jetzt, sofort.“
Oder: „Der blöde liebe Gott soll das wieder in Ordnung bringen, was fällt dem eigentlich ein?“
Und sie sind nicht wütend und sie stampfen auch nicht mit dem Fuß auf, und sie schreien nicht alle Schimpfwörter heraus, die sie kennen, sie hauen nicht mit dem Kopf gegen die Wand, sie sind ruhig und sagen nur: „Es ist gut so, wie es ist.“

Ich bin wütend, und ich will schreien und mit dem Fuß aufstampfen und ich will Dinge kaputtmachen und nie mehr damit aufhören. Ich will allen sagen, wie ungerecht und gemein das ist, und ich will nicht, dass meine Schwester tot ist, und dass sie beerdigt wird, ich will das nicht. Aber ich bin ruhig, weil alle ruhig sind, und ich nicke, wenn sie sagen, dass alles gut ist, wie es ist, weil ich nicht auffallen will. Ich will, dass sie mich lieb haben, wütende Mädchen finden alle doof.

Ich verstecke meine Wut ganz tief unten in meinem Körper, und die Angst und die Traurigkeit auch. Man trauert nicht um tote Schwestern, die behindert waren und nichts konnten. Nicht traurig sein.

 

 

 

 

Memory und Wackelturm

Als ich in der dritten Klasse war, ging ich jeden Dienstag Nachmittag zu einer Therapeutin, weil ich lernen sollte, wie man spielt und wie man redet und wie man Freunde findet. Und ich lernte, mit dem Bus allein zur Therapie zu fahren, weil das die Erwachsenen so wollten. Das Schwierige daran war nur, dass ich mit dem Busfahrer reden musste, um eine Fahrkarte zu bekommen, und ich redete nicht gerne, und die vielen anderen Leute, und ich hatte Angst vor anderen Leuten. Aber ich lernte sehr gut, allein mit dem Bus zu fahren.

Die Therapeutin hatte immer ein Tintenfass auf dem Tisch stehen, und einen Füller, mit dem sie manchmal Dinge aufschrieb. Sie wollte mit mir Fußball spielen, und mit Figuren im Puppenhaus und dass ich malte, aber das wollte ich nicht. Ich spielte nur zwei verschiedene Spiele bei der Therapeutin. Memory, dabei gewann ich immer, und ein Spiel, das Wackelturm hieß oder so, und dabei verlor ich immer. Das fand ich gerecht, dass jeder von uns mal verlor und mal gewann, da musste niemand von uns traurig sein. Ich spielte nichts anderes mit ihr, denn ich war mir sehr sicher, dass sie nur mit mir spielen wollte, um Dinge aus meinem Inneren zu erfahren, die sie dann mit ihrem Füller aufschreiben und meinen Eltern erzählen konnte. Ich wollte nicht, dass sie Dinge über mich wusste. Ich ging ganz gerne zur Therapeutin, weil ich spielte sehr gerne Memory.

Nachdem ich etwa ein Jahr lang jeden Dienstag Nachmittag Memory und Wackelturm mit der Therapeutin gespielt hatte, brachte ich einmal Fotos von meiner Schwester mit zur Therapie. Ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu kam, vielleicht hatte sie mich gefragt. Ich war sehr stolz und freute mich sehr, dass jemand Fotos von meiner Schwester anschauen wollte, denn sonst wollte niemand Fotos von meiner Schwester anschauen.

Ich reichte der Therapeutin die Mappe mit den Fotos, und meine Hände zitterten, und sie rückte ihre Brille zurecht. Sie machte es nicht richtig mit den Fotos. Sie sah sich die Fotos an, und sagte sowas wie, dass ich früher dickere Wangen gehabt hätte, oder wer wem am Ähnlichsten sah. Sie sagte die falschen Dinge. Sie sollte sowas sagen wie: „So eine schöne Prinzessin, das darf doch nicht sein, dass sie tot ist.“ Und sie sollte richtig sauer und traurig darüber sein, dass meine Schwester tot war, und dann sollte sie sie wieder lebendig machen. So sollte sie das machen. Ich guckte meine Schwester auf den Fotos an, und sie guckte zurück, und ich schluckte und zitterte, und die Therapeutin redete immer noch falsche Dinge, und ich weinte, obwohl ich eigentlich gar nicht weinen wollte. Ich weinte und weinte und weinte. Es war das erste Mal, dass ich weinte, weil meine Schwester tot war.

Irgendwann hörte ich auf zu Weinen, und die Therapeutin rief bei mir zu Hause an, und fragte, ob mich jemand abholen könnte, damit ich nicht mit dem Bus fahren müsste. Mein Vater wollte mich nicht abholen, ich hörte, wie er sagte, dass ich mit dem Bus fahren sollte, weil das könnte ich ja jetzt, und die Therapeutin versuchte, ihn zu überreden, mich abzuholen. Ich schämte mich, weil ich meinen Eltern Probleme machte.

Ich weiß nicht mehr, ob mich schließlich doch jemand abholte oder ob ich mit dem Bus heim fuhr. Danach ging ich nicht wieder zur Therapeutin. Ich wollte nicht mehr dorthin, weil ich wusste, dass sie Dinge aus meinem Inneren gesehen hatte, die eigentlich geheim waren. Weinen war blöd, ich war blöd, weil ich geweint hatte. Ich beschloss, nie wieder zu weinen.