Ich hatte ein Kleid an

Beim Gottesdienst, als meine Schwester beerdigt wurde, saß ich auf einem Gesangsheft. Die Gesanghefte lagen auf den Stühlen der Kapelle, in der der Gottesdienst stattfand. Es war so gedacht,  dass man sich ein Gesangsheft nahm, bevor man sich setzte, um dann beim Gottesdienst mitzusingen. Ich setzte mich auf das Gesangsheft, zuerst ohne darüber nachzudenken. Ich konnte zu der Zeit ohnehin noch nicht lesen, und singen wollte ich auch nicht. Nach einer Weile fiel mir auf, dass es wohl nicht zum guten Benehmen gehörte, auf einem Gesangheft zu sitzen. Ich überlegte verzweifelt, wie ich es unter meinem Po hervorholen könnte, ohne aufzufallen. Denn Auffallen während eines Gottesdienstes gehört ebenfalls nicht zum guten Benehmen, das wusste ich.

Dann waren wir draußen, sie hatten ein großes Loch gegraben und da ließen sie den Sarg hinein. Ich hatte ein Kleid an. Vorsichtig ging ich ganz nah an das Loch heran, bis ich am Abgrund stand und hinein sehen konnte. Es war tief, sehr tief. Und meine Schwester da unten. Plötzlich merkte ich,  wie jemand von hinten an meinem Kleid zog. Es war meine Oma. „Nicht so nah ran gehen, Kind“, raunzte sie mich an und zog mich weg.

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